Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Ein heißer Sommertag. Es sind 35 Grad Celsius und alle, die nur können, versuchen ihre überhitzten Gehirnzellen irgendwie abzukühlen. Ich beschließe Emil etwas früher von der Kita abzuholen und mit ihm an einen See zu fahren.

Wir fahren mit dem Auto. Ich am Steuer, Emil hinten. Die Klimaanlage läuft, trotzdem haben wir offensichtlich beide das Gefühl kurz vor einer persönlichen Kernschmelze zu stehen. Auf der Strecke, auf der wir uns befinden, ist es schwierig bis unmöglich problemlos anzuhalten.

„Mama, ich wollte eigentlich mit Papa an den See fahren“, verzieht Emil sein Gesicht.

„Papa musste mit Hela zuhause bleiben, weil sie krank ist.“

„Aber ich wollte, dass wir alle zusammen fahren! Buhuuu“, Emil fängt an zu weinen.

„Ja, mir wäre das auch lieber. Leider kann Hela heute nicht an den See, sie kann auch nicht alleine zuhause bleiben und ich will nicht, dass wir alle zuhause sitzen, sondern dass zumindest wir an den See fahren und ein bisschen schwimmen.“

Emil überlegt einen Moment und weint dann weiter.

„Aber ich will hier hinten nicht alleine sitzen. Buhuuu.“

„Wir fahren nicht lange. Noch ein paar Minuten und wir sind da.“

„Aber es ist zu heiß.“

„Die Klimaanlage läuft. Gleich wird es kühler sein. Und bald hüpfen wir auch ins kühle Wasser.“

„Aber ich will nicht, dass es so heiß ist. Buhuuu.“

„Im Sommer ist es halt manchmal so heiß. Dann kann man auch im See schwimmen gehen.“

„Mein Gurt ist nass. Buhuuuu“, leidet Emil weiter.

„Er ist nass von deinen Tränen, weil du seit einer Weile weinst.“

„Ich will nicht, dass er nass ist. Buhuuuu“, Emil weint ununterbrochen weiter.

„Und jetzt ist er noch nasser! Buhuuuu“, schreit er verzweifelt 2 Minuten später.

Zum Glück kommen wir an. Nach 15 Minuten von komplizierten Parkmanövern finden wir doch noch eine Parklücke auf dem überfüllten Parkplatz. Wir breiten die Handtücher aus und ziehen die verschwitzten Kleider aus. Wir laufen barfuß über das Gras, essen Kirschen und spucken mit den Kernen. Wir schwimmen im herrlich kühlen See. Das Leben meint es gut mit uns.

Krieg der Welten – mit Status Epilepticus ins Krankenhaus

Über Krankheiten und die moderne Medizin

Hela ist 2 und hat das Angelman Syndrom. Während gleichaltrige durch die Spielwiesen hopsen, widmet sie sich lieber scharfsinnigen Beobachtungen und stellt sich unerschrocken diversen Fragen philosophischer Natur. Könnte sie sprechen, würde sie möglicherweise das hier über ihre Epilepsieanfälle und den Status Epilepticus, der sie ins Krankenhaus auf die Intensivstation brachte sagen…

Ich mag vielleicht erst zwei Jahre alt sein aber über Ärzte und Krankheiten kann ich schon einiges sagen. Ärzte sind meistens feine Menschen. Häufig sind sie Idealisten: sie wollen die Welt verbessern. Sie wollen den Menschen helfen und die Krankheiten bekämpfen. Das ist wirklich löblich, allerdings musste ich in der letzten Zeit feststellen, dass dieser Kampf oft an meinem Körper ausgetragen wird. Die Viren, Bakterien oder die syndrombedingten Symptome greifen an und die Medizin versucht sie mit diversen Waffen abzuwehren.

Je heftiger die Attacke der Krankheitswelt, desto größer das Aufgebot der Medizin. Bei einem einfachen Schnupfen, wird ein Nasenspray in meiner Nase abgefeuert. Steigt bei mir das Fieber, kommen das Thermometer und die fiebersenkenden Mittel zum Einsatz. Wie ihr wahrscheinlich ahnt, ist das nur der Anfang einer langen Liste – nach oben gibt es elend viel Luft. Denn ein Nasenspray ist für die Medizin, was ein Umstandsuniform für schwangere Soldatinnen für das Militär ist – eine gute Sache aber Kriege gewinnt man mit anderen Mitteln.

mit Epilepsie ins Krankenhaus
Eine unabhängig von dem Text und den beschriebenen Vorkomnissen von Emil gestaltete Spielfigur

Das Militär hat Kasernen und Stützpunkte, Medizin hat ihre Krankenhäuser. Militär hat Hubschrauber, Medizin auch. Militär hat Panzer, Medizin hat Krankenwagen. Würde man das Waffenarsenal des Militärs und das der Medizin vergleichen, da bin ich mir sicher, dass Medizin mit Abstand gewinnen würde. Beide haben hierfür ihre High-Tech-Zulieferer, die spezielle Waffen eigens für das Militär bzw. Medizin herstellen. Schwer zu verstehen ist nur, dass weder die Armee noch die Krankenhäuser sie sich leisten können. Über die Preise der Militärprodukte weiß ich nicht viel, aber ich vermute, wer je einen Therapiestuhl aus eigener Tasche zahlen musste, könnte sich für dieses Geld auch einen kleinen Leopard II-Panzer mit 120 mm Glattrohrkanone leisten.

Es erscheint mir nur folgerichtig, dass unsere jetzige Verteidigungsministerin eine Ärztin von Beruf ist.  Militär und Medizin nehmen sich eben nicht viel. Die einen wie die anderen wissen, was ein harter Kampf ist.

Status Epilepticus

Ich weiß das auch schon, insbesondere nachdem für die neuste Schlacht im Krieg der Welten erneut mein Körper als Arena benutzt wurde. Diesmal eröffnete das Feuer ein minderer Infekt, als erstes Feuergefecht sozusagen. Der Infekt hat sich aber überlegt, als defensive Kampftaktik Fieber zur Unterstützung zu holen und das Fieber ist in unserem Fall ein enger Verbündeter der Epilepsie. Diese ging in die Volloffensive, griff mit brachialer Wucht an und ließ mich einfach nicht los. Die Maßnahmen, mit denen der Notarzt und die Sanitäter mich verteidigt haben, reichten nicht aus, auch wenn sie einiges an Medizinwaffen dabei hatten und nicht gezögert haben einzusetzen. Sie beschlossen mich ins Krankenhaus zu bringen, wo solche Kriege ja entschieden werden.

Dort wartete schon auf mich ein kleines Bataillon von Ärzten, Krankenschwestern und sonstigem Personal. Als ich eintraf, rief eine aus ihren Reihen:

„Da kommt der Status epilepticus!“ und meinte damit mich. Ich wusste, das war eine Kampfansage: die Medizin fängt jetzt den Frontalkampf an. Ich habe Angst gekriegt und ging erneut mit Epilepsie in Deckung.

Mit Status Epilepticus ins Krankenhaus

Als ich aufgewacht bin, war die Schlacht vorbei. Ich war in einem Raum voller Knöpfe, Bildschirme und Kabel, ganz wie in einem Raumschiff aus dem Bilderbuch von meinem Bruder. Mein Kopf, mein Brustkorb und mein großer Zeh waren an Monitore angeschlossen. In meinem Körper waren nun mehrere Einschusslöcher. Ich fühlte mich, wie ein Schlachtfeld sich eben nach einer Schlacht fühlt. Wach zu sein war jetzt kein Vergnügen, wirklich nicht. Daher machte ich meine Augen wieder zu und beschloss die nächsten Tage zu verschlafen.

Auf der Intensivstation

Was die Sicherheit im Kampf gegen die Krankheitserreger angeht, glich die Station, auf der ich mich befand, einem Atombunker. Alles wurde desinfiziert, sterilisiert und sauber gemacht, damit sich ja nicht mal das kleinste Virus da einschleust. Das Personal hat sich die Hände so oft desinfiziert und gewaschen, dass es fast ein Wunder ist, dass sie überhaupt noch von Haut bedeckt waren. Mein großer Bruder, ein Kindergartenkind und damit ein potenzieller Anführer der Schleuserbande für Viren und Bakterien, wurde auf die Station gar nicht erst hereingelassen. Ständig wurde da auch patrouilliert. Die Krankenschwestern, die Ärzte, dauernd kam jemand vorbei und kontrollierte, ob die Epilepsie keinen Hinterhalt oder Gegenschlag vorgenommen hat. Und am nächsten Tag kam die Visite.

Die Visite ist so etwas wie eine Stabsbesprechung bei der Armee. Man kennt das ja aus dem Fernsehen – Generäle und andere wichtige Menschen stehen am großen Tisch auf dem eine Landkarte ausgebreitet ist. Sie planen die nächsten Züge und sprechen ihre Strategie ab. Die Visite ist eigentlich das Gleiche, nur dass ich dann wieder die Rolle der Landkarte übernehmen muss. Die Visite wird von einem besonders erfahrenen Arzt angeführt und zieht mit Schwung durch alle Zimmer auf der Station. An jedem Patientenbett wird überprüft, wie die Lage an diesem Frontabschnitt ist und was für Maßnahmen die Mediziner ergreifen um die Frontlinie zu stabilisieren oder gar den Kampf an dieser Stelle erfolgreich zu beenden.

Die Uniforme der Mediziner

Alle Mediziner tragen ihre Uniformen. Es gibt welche in blau und manche in grün. Was allerdings keiner Uniformpflicht unterliegt sind die Schuhe. An den Schuhen kann man das Alter und oft auch den Rang des Mediziners unschwer erkennen. Die älteren Ärzte tragen immer sehr unauffällige Schuhe. Ihre Schuhe sind oft dermaßen unauffällig, dass wenn man nach der Visite überlegt, welche Schuhe der Arzt getragen hat, kann man nur aufgrund der bisherigen Erfahrung sagen, dass er überhaupt welche anhatte. Die jungen Ärzte hingegen (und manchmal auch die hippen Krankenschwestern) tragen Sportschuhe in knallbunten Farben: rosa, türkis, kanarienvogelgrün. Die Farbpalette ist wirklich beachtlich, die Marke der Schuhe jedoch fast immer gleich. Die meisten entscheiden sich, wie man es von  jungen aufstrebenden Ärzten erwarten würde, für die Marke, dessen Name für die griechische Göttin des Sieges steht: Nike. Die bunten Schuhe sollen sie zum Sieg tragen. Von mir aus gerne. Ich bin sehr für den Sieg der Medizin, denn ich bin der ständigen Kämpfe bereits jetzt schon satt.

Nun kommen wir zu meinem eigentlichen Anliegen. Ich habe eine große Bitte an die Krankheiten, an die Ärzte und Mediziner: Grundsätzlich bin ich für den Frieden aber wenn ihr schon irgendwo kämpfen müsst – geht bitte in die Forschung! Lasst meinen Körper in Ruhe. Eine Petrischale oder ein Computer geben doch auch exzellente Schlachtfelder ab. Ich danke euch im Voraus.

Eure Hela

Wenn du mehr darüber erfahren willst, warum ich so häufig an dem Krieg der Welten teilnehmen muss – also mehr über das Angelman Syndrom lesen willst, geh bitte zur Seite mit Infos zum Angelman Syndrom

Töpfchenspiele

„Denn die anderen Kinder laufen schon ohne Windel…“, „Meine Tochter bereits mit 2!…“, „Hat bei uns 2 Wochen gedauert…“, „So von heute auf morgen wollte er einfach keine Windel mehr“. Solche Sätze tauchen in der letzten Zeit oft und immer öfter in unserem Alltag auf.

Töpfchen – eignen sich hervorragend für ein Foto-Projekt: Töpfchen im Wald

Der dritte Geburtstag von Emil ist schon längst vorbei, er ist auch ganz offiziell ein Kindergartenkind aber Ende der Windelzeit ist noch nicht abzusehen. Wahrscheinlich müsste bei uns ein Töpfchenmeteorit einschlagen, sonst sieht es mit der Windelabgewöhnung düster aus… Nicht, dass wir es nicht versucht hätten – das erste Mal klassisch während der Sommertage. Da kann man gut ohne Windel herumlaufen, Pipi machen aufs Gras und selbst wenn die Hose etwas nass ist, droht nicht sofort die Unterkühlung der unteren Extremitäten. Im Sommer also beschließe ich, dass es soweit ist. Laut Beschluss ist unser Sohn reif für den Abschied von der Windel. Stundenlang suche ich nach einem passenden Töpfchen online und stelle fest, dass der Gegenstand, der wie ein einfaches Gefäß aus Plastik aussieht ein beinahe so komplexes Thema darstellt, wie ein Kinderwagen. Eine Wissenschaft für sich. Tausend Modelle. Mit Melodie, mit Spülfunktion, anatomisch geformt, ergonomisch geformt, unterschiedlich groß, mit Spritzschutz, mit Rutschschutz, wie ein Seehund oder auch ein Bobby-Car aussehend, mit I-Pad-Halterung (!), mit besonders hoher Lehne und überhaupt vielleicht doch ein besonderer Kloaufsatz für Kinder – mit Treppe oder auch ohne. Die Internetforen platzen förmlich von Eintragen zum Thema Töpfchenwahl. Manche sind zu klein, manche nicht für Jungs, manche zu niedrig, ein Modell sogar lebensbedrohlich – ein Kind hat sich auf den Spritzschutz so unglücklich fallen lassen, dass es dann operiert werden musste… Und dann gibt es noch dieses sündhaft teure High-Tech Ding, das praktisch alles macht, außer Kacka und Pipi selbst zu produzieren…

Nach sage und schreibe drei Abenden, die ich damit verbracht habe, mir Hunderte von Töpfchen anzuschauen, entscheide ich mich für das Modell Seehund. Es sieht lustig aus UND es spielt eine Melodie. Die Melodie ist sicher – ich habe nachgeschaut. Es wird nicht, wie bei manchen anderen Modellen Happy Birthday gespielt. Somit laufen wir nicht die Gefahr einer besonders unglücklichen Konditionierung. Modell Seehund wird bald geliefert. Ich führe es dem Kind vor und versuche dabei möglichst viel Begeisterung zu generieren – es ist ja das ultimative Töpfchen! Schließlich habe ich Stunden damit verloren, genau dieses Modell zu wählen. Kind setzt sich aufs Töpfchen.

„Prima! Fantastisch! Und gleich passiert was und dann kommt die Melodie!“. Es passiert tatsächlich was, die Melodie kommt nicht. Kind ist enttäuscht und verliert Interesse am Seehund. Seehund landet neben dem Töpfchen Nummer 1, das wir zusammen mit dem Kind im Laden ausgesucht haben. Auch daran hat das Kind Interesse verloren, sobald wir den Laden verlassen haben…

Nach einigen Wochen von hartem Töpfchenkampf, (Aber bloß ohne Stress! Mit ganz viel Lob und Ermunterung! Und bitte ganz sicher ohne Druck!) stapelt sich in unserem Badezimmer ein kleiner Töpfchenberg. Modell Seehund kriegt noch ein weiteres Melodie-Modell auf den Kopf (auch bei diesem Modell funktioniert die Melodie nur ein einziges Mal – beim Test im Laden) sowie noch zwei weitere Modelle. Kein Töpfchen ist gut genug. Kein Töpfchen spannend genug, um unser Kind dazu zu bringen, sich überhaupt darauf niederzusetzen. Ich gebe auf und lasse die Staubmilben sich auf die Töpfchen niederzusetzen. Es kommt, wenn es kommt. In den Lebenslauf muss man das zum Glück noch nicht reinschreiben.

Als ich meine Mami-Runde in der Zwischenzeit wieder treffe, stellt es sich heraus, dass mein Sohn nicht der einzige Töpfchenverweigerer ist. Wir tauschen Tipps, Meinungen und einige Zweifel aus. Normalerweise versuche ich das Thema nicht in Emils Anwesenheit zu diskutieren – ich würde ja letztendlich auch nicht wollen, dass man meine Klogewohnheiten öffentlich bespricht. Die Kinder sind aber mit der Spielküche beschäftigt, kochen munter vor sich hin und tun so als würden sie nichts von unserem Gespräch mitbekommen. Aber irgendwann mal scheinen wir, Mamis, dann doch die Grenzen überschritten zu haben. Der eine Junge fängt an mit den Kochtöpfen herum zu schmeißen und Emil kommt zu mir und reicht mir mit einem schelmischen Lächeln eine Plastiktasse rüber.

„Oh, Danke Schatz, ist das Kaffee für mich?“, frage ich entzückt.

„Nein, Kacka!“, antwortet er, dreht sich um und läuft weg…

1:1 in den Töpfchenspielen.

Blumen für dich

„Mama, ich habe Blumen für dich gepflückt“, meint Emil als ich ihn vom Kindergarten abhole.

„Warte mal, die sind hier, in meiner Hosentasche“, sagt er und zieht diese zwei Prachtexemplare aus seiner Hose.

Ein paar Tage später hat er für mich sogar einen ganzen Blumenstrauß – im Eimer. Die Weltmeisterschaft der Floristen würde er damit wahrscheinlich nicht gewinnen. Mein Mutterherz schmilzt trotzdem.

U6 – Vorsorgeuntersuchung mit Behinderungen

Unsere erste Untersuchung mit einem behinderten Kind

Ein Bild von Emil

Die nächste Vorsorgeuntersuchung: die U6 steht in ein paar Tagen an. Ich mache da eher unfreiwillig mit  – beim Kinderarzt hat man darauf bestanden. Ich vereinbare den Termin am letzten möglichen Tag, auch die von der Krankenkasse festgelegte Toleranzgrenze endet am Tag danach. „Was soll das Gespräch über den Entwicklungsstand von unserer Tochter bringen außer der nächsten emotionalen Krise?“, denke ich mir. Ich kann mich erinnern, welche Fragen ich bei den U-Terminen von unserem Sohn gestellt habe und muss darüber schmunzeln: „Ob er keine krummen Beine kriegt von dem ganzen Herumgehüpfe?“, habe ich mich erkundigt, als er einige Monate alt war und sich immer wieder mit einer kleinen Unterstützung zum Stehen hochgezogen hat und gehüpft hat. „Ob ich die Fingernägel nicht zu kurz schneide?“, wollte ich tatsächlich wissen und „Wann er sich das Daumenlutschen abgewöhnen soll?“.

Diesmal muss ich fragen, ob das komische Zucken beim Einschlafen auf epileptische Anfälle hindeutet oder ob es auch bei uns ein harmloses Zucken gibt. Ist der Kopfumfang im Normbereich oder vielleicht zu klein? Solche Fragen, muss ich diesmal stellen, ohne die Fassung zu verlieren. Und auch Antworten liefern, die doch so schmerzhaft sind.  Zum Beispiel auf die von mir befürchtete Frage: „Was kann sie schon alles?“. Die Aufzählung fällt ziemlich knapp aus – wenn man den normalen Maßstab nimmt. Denn unsere Tochter hat ja viel gelernt in der letzten Zeit. Nur: „Sie liegt jetzt sehr gerne auf dem Bauch, hält viel länger den Blickkontakt und kann schon Bananen essen“ gehört bei einem 14-Monate alten Kind als Antwort zu einem anderen Fragenkatalog.Vorsorgeuntersuchungen mit behindertem Kind

Emil muss leider mit zur Untersuchung: Seine Kita ist zu, weil zu viele Erzieherinnen krank sind. Nur wenige Tage zuvor war er als Patient in der Praxis und musste bei einem Allergie-Test 20 Minuten lang ganz still sitzen. Um sicher zu gehen, dass er wirklich seine Beine nicht bewegt und damit die darauf getröpfelten Allergenstoffe nicht verlaufen, spielte ich ihm vom Handy den Film vor: „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“. In der Geschichte stellt ein kleiner Maulwurf, der gerade aus seinem Haufen herauskriecht, fest, dass ihm jemand auf den Kopf gemacht hat. Auf der Suche nach dem Übeltäter läuft er zu verschiedenen Tieren mit dem Kacka auf dem Kopf und fragt sie, ob sie ihm auf den Kopf gemacht haben. Den Film fand Emil wirklich lustig.

Als wir bei der U6 Vorsorgeuntersuchung von Hela schon seit einer Weile im Behandlungszimmer sind und ich gerade mit dem Arzt die vermeintlichen epileptischen  Anfälle bespreche, wird es ihm eindeutig zu langweilig. Auf der Suche nach Unterhaltung schaltet er sich deshalb in mein Gespräch mit dem Arzt ein:

„Mama, Kacka auf den Kopf!“, flüstert er mir zu. Ich beschließe zunächst die Frage zu überhören.

„Wie sieht das Zucken denn aus?“, fragt der Arzt.

„Hm, wie soll ich es beschreiben“, ich muss kurz nachdenken, wie ich das merkwürdige Verhalten in Worte fassen soll.

„Machen sie es ruhig nach“, meint der Arzt.

Während ich überlege, ob ich jetzt tatsächlich den vermeintlichen epileptischen Anfall vor dem Arzt nachzucke, verliert Emil den Rest seiner nicht mal 3 Jahre alten Geduld und verlangt laut und deutlich, mit einer fest entschlossenen Stimme:

„Mama! ICH. WILL. KACKA AUF DEN KOPF. JETZT!“

Ich werde rot und gerate in Erklärungsnot. Zum Glück kennt der Arzt die Geschichte vom „Kleinen Maulwurf, dem jemand auf den Kopf gemacht hat“. Er bietet Emil mehrere Gummibärchen an und so können wir das Gespräch doch zu Ende führen. Ohne, dass ich zucken muss.

Danke, Emil, mein kluger, kluger Sohn!

Pinakotheken – Neustart nach der Diagnose: Behinderung

Muttergottes mit Nelke von Dürer

Ich kann mich einfach nicht zurückhalten und schaue in jeden Kinderwagen rein. Eigentlich in der Hoffnung auch andere Babies und Kinder zu sehen, die anders sind. Aber nein. Sie sitzen, betrachten mich und das Geschehen auf der Straße ganz aufmerksam und neugierig, manche lächeln oder plappern. Manche quengeln. Manche schlafen. Manche lutschen am Daumen. Manche essen etwas. Alle gesund.

Selbstmord der Lukretia von Dürer

Neulich war ich wieder in der Alten Pinakothek. Vor den Gemälden betrachten Menschen von heute Menschen von damals. In den ersten Sälen hauptsächlich Maria mit Kind. Für mich nach einigen Minuten nur noch Maria mit Kind. Ich laufe vom Bild zu Bild und vergleiche – wo kann das Kind schon sitzen, wo kann es schon stehen, sind die Maße altersgemäß? Sieht man im Gesicht etwas, was auf ein Syndrom schließen lässt? Sieht das Kind gesund aus? Ich werde oft fündig – hier ist das Kind eindeutig zu groß, hier hat es einen deformierten Kopf, hier sitzt es sehr unstabil. Bei Dürer sieht es generell mit den Menschen düster aus – seine Lukretia, die gerade versucht Selbstmord zu begehen,  musste auf jeden Fall irgendetwas gehabt haben. Ebenso das Christkind von Muttergottes mit der Nelke. Überall winken mir eingerahmte Hinweise auf neurologische Störungen zu.

Die Neue Pinakothek beruhigt mich wieder ein paar Tage später. Van Gogh mit seiner Depression, der kleinwüchsige Toulouse-Lautrec und die anderen Impressionisten mit all ihren Problemen, die Sinnfragen der Jahrhundertwende, da fühlt man sich einfach in bester Gesellschaft. Und gleich im ersten Saal sitzen die alten Lebensmüden, die dann einen daran erinnern, dass das Leben kurz ist, zu kurz um es für das Unglücklichsein zu verschwenden.

Die Lebensmüden von Hodler

Merkur, Venus, Erde, Behinderung

In der Zeit unmittelbar nachdem das Angelman Syndrom bei unserer Tochter diagnostiziert wurde,  war mein Kopf voller Fragen. Ich hatte das Gefühl das wir mit einem Schlag in eine fremde Welt katapultiert worden sind – in die Welt der Schwerbehinderung. Wir durften zwar in der heilen, syndromfreien Welt als Beobachter verweilen aber es war nicht mehr unsere Welt. Wir haben einfach nicht mehr dazu gehört, zu der Welt der Familien mit lachenden, plappernden und herumlaufenden Kindern. So hat es sich zumindest damals angefühlt.

Jedes Mal nahm uns unser Diagnose-Raumschiff zurück auf den für uns ausgesuchten fremden Planeten. Ich wusste gar nichts darüber und das machte mir Angst. Die Informationsbruchstücke, die ich hatte, basierten hauptsächlich auf dem Wissen aus dem Fernsehen. Im Freundeskreis oder in unseren Familien gab es bis vor kurzem keine Menschen mit Behinderung. Immer wieder also drängten sich mir Fragen auf: Was ist das für eine Welt in der wir gelandet sind? Wie leben denn DIESE Menschen? Was ist das für ein Leben? Sind sie glücklich?Leben mit Behinderung

Auf den Straßen hielt ich Ausschau nach möglichen Anzeichen der Behinderung bei anderen Menschen aber so intensiv ich alle angegafft habe, konnte ich keine entdecken. Rein statistisch gesehen hätten wir aber in unserem 20.000 – Seelen – Ort nicht die einzige Familie mit einem behinderten Kind sein dürfen. Ich fragte mich also immer wieder: Wo sind sie denn? Warum sieht man sie gar nicht?

Einige Zeit später hat mich meine unbedarfte Sucherei nach DEN BEHINDERTEN daran erinnert, wie ich vor Jahren im Rahmen vom Socrates-Erasmus Austauschprogramms nach Deutschland kam. Wir kamen als eine kleine Gruppe von Germanistik- und Linguistik- Studenten von meiner Uni nach Berlin, alle mit dem Ziel unser Deutsch zu perfektionieren und die deutsche Kultur zu erleben. Wir wollten DIE DEUTSCHEN kennen lernen. Relativ schnell stellte sich heraus, dass dies in Berlin keine einfache Aufgabe ist. Erstens waren die Deutschen nicht auf den ersten Blick erkennbar, wie vorher unbewusst angenommen. Zweitens bestand unser Wochenplan hauptsächlich aus Seminaren in denen größtenteils andere Austauschstudenten saßen. Drittens waren die Studentenwohnheime in denen wir untergebracht wurden zu 90 % von anderen ausländischen Studenten bewohnt. Und nicht zuletzt hatten die regulären Studenten, zu denen ja alle deutschen Studenten zählten, relativ wenig Interesse daran, die Austauschstudenten kennen zu lernen, die nur für einen oder maximal zwei Semester in der Stadt bleiben würden. Die Socrates-Studenten lebten in einer Socrates-Blase. Es gab Socrates-Wohnheime, Ratgeber für Socrates-Studenten, Socrates-Partys sowie Clubs und Cafés in denen sie vorrangig verkehrten. In der Mensa hielten sie sich zusammen. Immer wieder als wir uns trafen, hörte man die Frage:

„Und, hast du schon irgendwelche Deutsche kennen gelernt?“

„Nein, aber zur Party am Mittwoch kommen zwei Dänen.“

oder

„Nein, aber auf der Etage, auf der Monika wohnt, wohnt auch eine deutsche Studentin.“

Wäre ich, wie geplant, nur einen Semester lang in Berlin geblieben, hätte ich vermutlich keine deutschen Studenten kennen gelernt. Ich bin aber länger geblieben und nach und nach, hat man sie dann doch getroffen, die ersten deutschen Freunde und Bekannten gewonnen – sogar einen besonders netten deutschen Studenten kennen gelernt, der einige Jahre später mein Ehemann wurde. Nach ein paar Semestern hat man dann gelernt, dass es keinen großen Sinn hat, streng zu unterscheiden – es gab dann eben Pierre und Heike und Olga und Aboud. Deren Nationalität war oft schwer eindeutig festzustellen und ohnehin nicht mehr so wichtig.

Auch auf dem Planeten Behinderung entdecke ich nach und nach Leben. Es gibt hier auch andere Menschen und Familien – einige wohnen in unserer Gegend. Man erkennt sie nicht immer auf den ersten Blick. Manchmal bleiben sie unter sich, weil es für sie aus diversen Gründen nicht immer einfach ist, an dem gesellschaftlichen Alltag teilzunehmen. Oder aber, weil die Menschen nicht immer Interesse daran haben, sie kennen zu lernen – sie haben keine Zeit für neue Bekanntschaften und manchmal haben sie Angst vor Menschen von fremden Planeten.