Archiv für den Monat: Mai 2022

Die Box mit Erinnerungen – Eltern gegen den Krieg

Über das Glück, wertlose Schätze aufbewahren zu dürfen und darüber, was Eltern angesichts des Kriegs in der Ukraine tun können.

Schatulle mit Schätzen von unserem Sohn- dari zwei kleine Boxen für Milchzähne in gelb und blau

Unser Sohn – der Sammler

Unser Sohn hat einen Milchzahn verloren. Wir haben die Nachricht ohne Enthusiasmus vernommen, denn es war mittlerweile der 8. oder vielleicht auch der 9. Milchzahn, der ihm rausgefallen ist. Die Beharrlichkeit und Entschlossenheit, mit der unser Sohn darauf besteht, dass ihn auch bei diesem Zahn die Zahnfee besucht, lässt mich nur hoffen, dass er in Zukunft ein Gewerkschaftler oder ein Menschenrechtler wird. Der Zuständigkeitsbereich der Zahnfee wird erneut nachverhandelt. Der Zahn landete aber bereits in einer kleinen Dose, die in der Schatulle mit den besonderen Schätzen von unserem Sohn aufbewahrt wird – wie alle anderen Zähne zuvor.

Regelmäßig rege ich mich über zu viel Zeugs im Zimmer unseres Sohns auf. Nichts darf weggeworfen werden, selten nur verschenkt. Vom Verkaufen will unser 8-Jähriger gar nichts wissen. Wenn es nach unserem Sohn ginge, sollten ihn alle Sachen lebenslang begleiten. Alles soll genau so bleiben, wie es schon immer war und die verschiedensten Gegenstände sollen das bitte schön bezeugen und für immer dort bleiben, wo sie schon immer waren. So wie immer ist für ihn der bevorzugte Zustand der Welt.

Ich – die Sammlerin

Ich sammle auch: die ersten selbstgemalten Bilder, die ersten geschriebenen Worte, eine Strähne der Babyhaare, die irgendwann mal doch händezitternd geschnitten wurden, die Geburtsbändchen, die den neugeborenen Kindern im Krankenhaus um die Hand gewickelt wurden… Es ist alles da, in der Kiste mit unseren Familienschätzen, die mein Herz erwärmen lassen, wenn ich sie in die Hand nehme.

Alles darin ohne jeglichen Wert für Andere. Würde ich die Kiste auf die Straße stellen und darauf „zu Verschenken“ schreiben, wäre am nächsten Tag immer noch alles da. Denn nur für mich und meine Familie haben die Sachen einen Wert. Es sind unsere Familienschätze – sie machen die Vergangenheit wieder greifbar. Sie sind die materielle Seite unserer Familienerinnerungen.

Seit dem 24.02.22 haben die Sachen in unserem Zuhause einen Schatten bekommen: Jedes Mal, wenn ich sie anschaue oder in die Hand nehme, denke ich an die Trümmerbilder, die uns seit jenem Tag, zu unserem großen Glück nur in den Medien, begleiten. Mehrstöckige Wohnblöcke, in denen ein Geschoss die Frontwand abgerissen und damit eine ganze Reihe von Wohnzimmern, Schlafzimmern und Kinderzimmern offengelegt hat. Platt gebombte Einfamilienhäuser. In Schutt und Asche verwandelte Dörfer und Städte. Unter dem Schutt liegen die Schatzschatullen der Kinder, die dort gelebt haben und stolz darauf waren, dass sie einen Milchzahn verloren haben. Die Geburtsbändchen, die ersten Haarsträhnen, die Familienfotos und das ganze restliche Zeug, das nur für die eine Familie einen Wert hatte – all das liegt da zerstört und dazu degradiert, was es für die meisten Unbeteiligten schon immer war – Müll.

Das Sammeln und die Flucht

Irgendwo habe ich gelesen, dass wir Sachen sammeln, um so dem Tod und der eigenen Vergänglichkeit zu trotzen. Sich an den Sachen zu klammern, ist ein Versuch, die Zeit einzufrieren.

Ich sehe die Trümmer und die brutalen Kriegsbilder und denke an die Kinder und die Familien, die die Zeit nicht einfrieren konnten, die sich dem Tod nicht widersetzen konnten. Die Schatzschatullen mit den Milchzähnen wurden mit Schatullen mit Kriegstraumata ersetzt, die Millionen Kinder lebenslang mit sich tragen werden. Nicht selten wurden die ganzen Familienerinnerungen ausgelöscht, weil die Familie nicht mehr am Leben ist.

Über 5 Millionen von hauptsächlich Frauen und Kindern waren bis Anfang Mai laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) außerhalb der Ukraine, in den Nachbarländern, auf der Flucht. Mehr als 10 Millionen Menschen mussten bislang insgesamt ihr Zuhause verlassen und Zuflucht in sichereren Teilen der Ukraine suchen oder harren seit Wochen in Kellern, in den U-Bahn-Schächten und anderen Notunterkünften aus… 10 Millionen Menschen.

Eine Hand hält eine gelbe Löwenzahnblume auf dem Hinterrund des blauen Himmels

Ich denke daran, wenn ich die Milchzahndose sehe und kurz davor bin, mich über zu viel Zeugs im Kinderzimmer aufzuregen. Abends sehe ich meinen Sohn, wie er umgeben von der Schar seiner Kuscheltiere, in Sicherheit seines Bettes einschläft. Danach schaue ich unserer Tochter über die Kamera des Babyphones zu, wie sie in ihrem staubfreien und allergenarmen Zimmer schläft, zusätzlich gesichert durch eine Epilepsie-Matte, die Alarm schlagen würde, sollte unsere Tochter nachts krampfen. Während ich das tue, denke ich daran, wie viel Glück wir haben, all die nur für uns wichtigen Sachen aufbewahren zu dürfen und die Sicherheit zu haben, dass es morgens wieder einen anstrengenden Familienalltag geben wird – bei uns immer mit einem zusätzlichen Extra, dennoch in Sicherheit. Ich weiß, wie viel Glück wir haben, uns zu haben – klingt schnulzig aber sind die großen Worte nicht genau für solche Sätze da?

Der Krieg und die Behinderung

Hätte unsere Tochter, die mit dem Angelman Syndrom und damit einer schweren Behinderung zur Welt gekommen ist, eine wochenlange  Kriegsbelagerung überlebt? Alleine das Schlafen klappt ja schon bei uns Zuhause, trotz aller Hilfsmittel, mehr schlecht als recht. Wie sollte das in einem Keller oder in der U-Bahn gehen? Wie lange hätten da die anderen Schlafplatznachbarn das stundenlange, nächtliche Quengeln unseres Kindes mitgetragen? Hätten wir als Familie es überhaupt geschafft zu flüchten? Die sichere und im Vorfeld durchgeplante Reise an die Ostsee fühlt sich für uns wie eine Weltreise an und die üblichen Staus bereiten uns jedes Mal große Sorgen – zu lang darf ein Reiseabschnitt nicht werden.

Ich kann nur hoffen, dass die Medikamentenversorgung in der Ukraine weiterhin funktioniert und die ärztliche Hilfe immer erreichbar ist. Denn unsere Tochter ist auf einige Medikamente, vor allem die Antiepileptika, zwingend angewiesen – wie viele Kinder mit Behinderungen auch, die ohne bestimmte Hilfsmittel oder Medikamente unendlich leiden und/oder in Lebensgefahr schweben.

Ich denke an die Familien mit einem schwerbehinderten Kind in den umkämpften Gebieten, die sich in einer hoffnungslosen Situation befinden, aus der sie ohne Hilfe von außen, ohne organisierte, sichere Fluchtwege nicht lebend rauskommen.

Ich denke an die Menschen mit Behinderungen, die oft nicht imstande sind, sich alleine in Sicherheit zu bringen, auch wenn es diese irgendwo gibt. Wer hilft ihnen, wenn die Bomben fallen?

Das Zurückgelassen werden

In der Reportage Gedächtnisübungen aus dem Buch Ein Paradies für Ethnographen erinnert sich der vielfach ausgezeichnete polnische Autor Ryszard Kapuściński, wie er als damals 7-jähriger Junge den Krieg erlebt hat. Er beschreibt die Flucht seiner Familie, an der auch sein gelähmter Großvater teilgenommen hat  – bei Bombenangriffen ist er alleine auf der Straße auf dem Fuhrwerk liegen geblieben, auf dem er transportiert wurde, während alle anderen versucht haben, sich irgendwo zu verstecken. Er berichtet auch, wie der Krieg nach einiger Zeit für ihn zum Normalzustand wurde:

‚Daher glaubte ich, nicht der Frieden, sondern der Krieg sei der Normalzustand, ja, der einzig mögliche, die einzige Form der Existenz; ich war überzeugt, das Herumirren, der Hunger und die Angst, die Fliegerangriffe und Feuersbrünste, die Razzien und Exekutionen, die Lügen und der Lärm, die Verachtung und der Hass seien die natürliche und ewige Ordnung der Dinge, machten Inhalt und Sinn jeglicher Existenz aus. Daher war ich verblüfft, als von einem Tag auf den anderen der Lärm der Geschütze verstummte, das Krachen der Bomben verhallte und Stille eintrat, weil ich diesen Zustand nicht zu deuten vermochte. Ein Erwachsener konnte angesichts dieser Stille wahrscheinlich sagen: „Die Hölle ist zu Ende. Endlich herrscht wieder Frieden.“ Ich besaß keine Erinnerung an den Frieden, ich war damals noch zu klein: Als der Krieg zu Ende war, kannte ich nur die Hölle.‘

Wir hoffen alle, dass der Krieg in der Ukraine bald zu Ende ist. Dabei gibt es so viele Krisengebiete auf der Welt, von denen wir kaum noch in den Nachrichten hören. Für so viele Kinder sind der Krieg und die Gewalt bereits der Normalzustand. An welche Welt werden sich diese und an welche Welt unsere Kinder erinnern, wenn sie in 30 Jahren an ihre Kindheit zurückdenken?

Eine Neon-Aufschrift "Wie sieht das Glück von morgen aus?" Was Eltern gegen den krieg tun können
Schlecht fotografierte Installation der wunderbaren Ausstellung im Futurium in Berlin

Eltern gegen den Krieg – was können wir tun

Gegen den Krieg in der Ukraine und die anderen aktuellen militärischen Krisen können die meisten von uns direkt wenig ausrichten. Was wir, Eltern, unseren Kindern an Werten auf den Weg geben, können wir aber sehr wohl bestimmen und sollten uns darüber Gedanken machen. Im oben zitierten Text von Kapuściński gibt es dazu eine Passage, die man als Hinweis nehmen kann:

Denn wir, die den Krieg durchlebt haben, wissen, wie er beginnt und wo seine Ursachen liegen. Wir wissen, dass er nicht nur mit Bomben und Raketen beginnt, sondern mit Fanatismus und Stolz, Dummheit und Verachtung, Ignoranz und Hass. All das bereitet ihm einen Nährboden, auf dem er wachsen und sich ausbreiten kann. Deshalb sollten wir die Verschmutzung menschlicher Beziehungen durch Ignoranz und Hass bekämpfen, genauso wie einige von uns die Luftverschmutzung bekämpfen.

Angesichts der Radikalisierung, die in vielen Ländern zu beobachten ist, wäre es nicht schlecht, wenn wir darüber nachdenken, was wir gegen die Verschmutzung menschlicher Beziehungen, gegen Ignoranz und Hassunternehmen können. Wenn wir es schaffen, unseren Kindern beizubringen, wie man in der Familie und in der Gesellschaft respektvoll miteinander umgeht, werden wir mit Sicherheit der einen oder anderen zukünftigen Krisen vorgebeugt haben. Auf jeden Fall ist diese Art der Krisenprävention etwas, was jede und jeder von uns sofort und jederzeit tun kann. Um dem sich in der letzten Zeit breitmachenden Ohnmachtsgefühl entgegenzuwirken und um die Welt ein Stückchen besser zu machen.