Die Box mit Erinnerungen – Eltern gegen den Krieg

Über das Glück, wertlose Schätze aufbewahren zu dürfen und darüber, was Eltern angesichts des Kriegs in der Ukraine tun können.

Schatulle mit Schätzen von unserem Sohn- dari zwei kleine Boxen für Milchzähne in gelb und blau

Unser Sohn – der Sammler

Unser Sohn hat einen Milchzahn verloren. Wir haben die Nachricht ohne Enthusiasmus vernommen, denn es war mittlerweile der 8. oder vielleicht auch der 9. Milchzahn, der ihm rausgefallen ist. Die Beharrlichkeit und Entschlossenheit, mit der unser Sohn darauf besteht, dass ihn auch bei diesem Zahn die Zahnfee besucht, lässt mich nur hoffen, dass er in Zukunft ein Gewerkschaftler oder ein Menschenrechtler wird. Der Zuständigkeitsbereich der Zahnfee wird erneut nachverhandelt. Der Zahn landete aber bereits in einer kleinen Dose, die in der Schatulle mit den besonderen Schätzen von unserem Sohn aufbewahrt wird – wie alle anderen Zähne zuvor.

Regelmäßig rege ich mich über zu viel Zeugs im Zimmer unseres Sohns auf. Nichts darf weggeworfen werden, selten nur verschenkt. Vom Verkaufen will unser 8-Jähriger gar nichts wissen. Wenn es nach unserem Sohn ginge, sollten ihn alle Sachen lebenslang begleiten. Alles soll genau so bleiben, wie es schon immer war und die verschiedensten Gegenstände sollen das bitte schön bezeugen und für immer dort bleiben, wo sie schon immer waren. So wie immer ist für ihn der bevorzugte Zustand der Welt.

Ich – die Sammlerin

Ich sammle auch: die ersten selbstgemalten Bilder, die ersten geschriebenen Worte, eine Strähne der Babyhaare, die irgendwann mal doch händezitternd geschnitten wurden, die Geburtsbändchen, die den neugeborenen Kindern im Krankenhaus um die Hand gewickelt wurden… Es ist alles da, in der Kiste mit unseren Familienschätzen, die mein Herz erwärmen lassen, wenn ich sie in die Hand nehme.

Alles darin ohne jeglichen Wert für Andere. Würde ich die Kiste auf die Straße stellen und darauf „zu Verschenken“ schreiben, wäre am nächsten Tag immer noch alles da. Denn nur für mich und meine Familie haben die Sachen einen Wert. Es sind unsere Familienschätze – sie machen die Vergangenheit wieder greifbar. Sie sind die materielle Seite unserer Familienerinnerungen.

Seit dem 24.02.22 haben die Sachen in unserem Zuhause einen Schatten bekommen: Jedes Mal, wenn ich sie anschaue oder in die Hand nehme, denke ich an die Trümmerbilder, die uns seit jenem Tag, zu unserem großen Glück nur in den Medien, begleiten. Mehrstöckige Wohnblöcke, in denen ein Geschoss die Frontwand abgerissen und damit eine ganze Reihe von Wohnzimmern, Schlafzimmern und Kinderzimmern offengelegt hat. Platt gebombte Einfamilienhäuser. In Schutt und Asche verwandelte Dörfer und Städte. Unter dem Schutt liegen die Schatzschatullen der Kinder, die dort gelebt haben und stolz darauf waren, dass sie einen Milchzahn verloren haben. Die Geburtsbändchen, die ersten Haarsträhnen, die Familienfotos und das ganze restliche Zeug, das nur für die eine Familie einen Wert hatte – all das liegt da zerstört und dazu degradiert, was es für die meisten Unbeteiligten schon immer war – Müll.

Das Sammeln und die Flucht

Irgendwo habe ich gelesen, dass wir Sachen sammeln, um so dem Tod und der eigenen Vergänglichkeit zu trotzen. Sich an den Sachen zu klammern, ist ein Versuch, die Zeit einzufrieren.

Ich sehe die Trümmer und die brutalen Kriegsbilder und denke an die Kinder und die Familien, die die Zeit nicht einfrieren konnten, die sich dem Tod nicht widersetzen konnten. Die Schatzschatullen mit den Milchzähnen wurden mit Schatullen mit Kriegstraumata ersetzt, die Millionen Kinder lebenslang mit sich tragen werden. Nicht selten wurden die ganzen Familienerinnerungen ausgelöscht, weil die Familie nicht mehr am Leben ist.

Über 5 Millionen von hauptsächlich Frauen und Kindern waren bis Anfang Mai laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) außerhalb der Ukraine, in den Nachbarländern, auf der Flucht. Mehr als 10 Millionen Menschen mussten bislang insgesamt ihr Zuhause verlassen und Zuflucht in sichereren Teilen der Ukraine suchen oder harren seit Wochen in Kellern, in den U-Bahn-Schächten und anderen Notunterkünften aus… 10 Millionen Menschen.

Eine Hand hält eine gelbe Löwenzahnblume auf dem Hinterrund des blauen Himmels

Ich denke daran, wenn ich die Milchzahndose sehe und kurz davor bin, mich über zu viel Zeugs im Kinderzimmer aufzuregen. Abends sehe ich meinen Sohn, wie er umgeben von der Schar seiner Kuscheltiere, in Sicherheit seines Bettes einschläft. Danach schaue ich unserer Tochter über die Kamera des Babyphones zu, wie sie in ihrem staubfreien und allergenarmen Zimmer schläft, zusätzlich gesichert durch eine Epilepsie-Matte, die Alarm schlagen würde, sollte unsere Tochter nachts krampfen. Während ich das tue, denke ich daran, wie viel Glück wir haben, all die nur für uns wichtigen Sachen aufbewahren zu dürfen und die Sicherheit zu haben, dass es morgens wieder einen anstrengenden Familienalltag geben wird – bei uns immer mit einem zusätzlichen Extra, dennoch in Sicherheit. Ich weiß, wie viel Glück wir haben, uns zu haben – klingt schnulzig aber sind die großen Worte nicht genau für solche Sätze da?

Der Krieg und die Behinderung

Hätte unsere Tochter, die mit dem Angelman Syndrom und damit einer schweren Behinderung zur Welt gekommen ist, eine wochenlange  Kriegsbelagerung überlebt? Alleine das Schlafen klappt ja schon bei uns Zuhause, trotz aller Hilfsmittel, mehr schlecht als recht. Wie sollte das in einem Keller oder in der U-Bahn gehen? Wie lange hätten da die anderen Schlafplatznachbarn das stundenlange, nächtliche Quengeln unseres Kindes mitgetragen? Hätten wir als Familie es überhaupt geschafft zu flüchten? Die sichere und im Vorfeld durchgeplante Reise an die Ostsee fühlt sich für uns wie eine Weltreise an und die üblichen Staus bereiten uns jedes Mal große Sorgen – zu lang darf ein Reiseabschnitt nicht werden.

Ich kann nur hoffen, dass die Medikamentenversorgung in der Ukraine weiterhin funktioniert und die ärztliche Hilfe immer erreichbar ist. Denn unsere Tochter ist auf einige Medikamente, vor allem die Antiepileptika, zwingend angewiesen – wie viele Kinder mit Behinderungen auch, die ohne bestimmte Hilfsmittel oder Medikamente unendlich leiden und/oder in Lebensgefahr schweben.

Ich denke an die Familien mit einem schwerbehinderten Kind in den umkämpften Gebieten, die sich in einer hoffnungslosen Situation befinden, aus der sie ohne Hilfe von außen, ohne organisierte, sichere Fluchtwege nicht lebend rauskommen.

Ich denke an die Menschen mit Behinderungen, die oft nicht imstande sind, sich alleine in Sicherheit zu bringen, auch wenn es diese irgendwo gibt. Wer hilft ihnen, wenn die Bomben fallen?

Das Zurückgelassen werden

In der Reportage Gedächtnisübungen aus dem Buch Ein Paradies für Ethnographen erinnert sich der vielfach ausgezeichnete polnische Autor Ryszard Kapuściński, wie er als damals 7-jähriger Junge den Krieg erlebt hat. Er beschreibt die Flucht seiner Familie, an der auch sein gelähmter Großvater teilgenommen hat  – bei Bombenangriffen ist er alleine auf der Straße auf dem Fuhrwerk liegen geblieben, auf dem er transportiert wurde, während alle anderen versucht haben, sich irgendwo zu verstecken. Er berichtet auch, wie der Krieg nach einiger Zeit für ihn zum Normalzustand wurde:

‚Daher glaubte ich, nicht der Frieden, sondern der Krieg sei der Normalzustand, ja, der einzig mögliche, die einzige Form der Existenz; ich war überzeugt, das Herumirren, der Hunger und die Angst, die Fliegerangriffe und Feuersbrünste, die Razzien und Exekutionen, die Lügen und der Lärm, die Verachtung und der Hass seien die natürliche und ewige Ordnung der Dinge, machten Inhalt und Sinn jeglicher Existenz aus. Daher war ich verblüfft, als von einem Tag auf den anderen der Lärm der Geschütze verstummte, das Krachen der Bomben verhallte und Stille eintrat, weil ich diesen Zustand nicht zu deuten vermochte. Ein Erwachsener konnte angesichts dieser Stille wahrscheinlich sagen: „Die Hölle ist zu Ende. Endlich herrscht wieder Frieden.“ Ich besaß keine Erinnerung an den Frieden, ich war damals noch zu klein: Als der Krieg zu Ende war, kannte ich nur die Hölle.‘

Wir hoffen alle, dass der Krieg in der Ukraine bald zu Ende ist. Dabei gibt es so viele Krisengebiete auf der Welt, von denen wir kaum noch in den Nachrichten hören. Für so viele Kinder sind der Krieg und die Gewalt bereits der Normalzustand. An welche Welt werden sich diese und an welche Welt unsere Kinder erinnern, wenn sie in 30 Jahren an ihre Kindheit zurückdenken?

Eine Neon-Aufschrift "Wie sieht das Glück von morgen aus?" Was Eltern gegen den krieg tun können
Schlecht fotografierte Installation der wunderbaren Ausstellung im Futurium in Berlin

Eltern gegen den Krieg – was können wir tun

Gegen den Krieg in der Ukraine und die anderen aktuellen militärischen Krisen können die meisten von uns direkt wenig ausrichten. Was wir, Eltern, unseren Kindern an Werten auf den Weg geben, können wir aber sehr wohl bestimmen und sollten uns darüber Gedanken machen. Im oben zitierten Text von Kapuściński gibt es dazu eine Passage, die man als Hinweis nehmen kann:

Denn wir, die den Krieg durchlebt haben, wissen, wie er beginnt und wo seine Ursachen liegen. Wir wissen, dass er nicht nur mit Bomben und Raketen beginnt, sondern mit Fanatismus und Stolz, Dummheit und Verachtung, Ignoranz und Hass. All das bereitet ihm einen Nährboden, auf dem er wachsen und sich ausbreiten kann. Deshalb sollten wir die Verschmutzung menschlicher Beziehungen durch Ignoranz und Hass bekämpfen, genauso wie einige von uns die Luftverschmutzung bekämpfen.

Angesichts der Radikalisierung, die in vielen Ländern zu beobachten ist, wäre es nicht schlecht, wenn wir darüber nachdenken, was wir gegen die Verschmutzung menschlicher Beziehungen, gegen Ignoranz und Hassunternehmen können. Wenn wir es schaffen, unseren Kindern beizubringen, wie man in der Familie und in der Gesellschaft respektvoll miteinander umgeht, werden wir mit Sicherheit der einen oder anderen zukünftigen Krisen vorgebeugt haben. Auf jeden Fall ist diese Art der Krisenprävention etwas, was jede und jeder von uns sofort und jederzeit tun kann. Um dem sich in der letzten Zeit breitmachenden Ohnmachtsgefühl entgegenzuwirken und um die Welt ein Stückchen besser zu machen.

International Angelman Day 2022

Angelman Verein und IAD 2022

Lasst uns heute blau machen!

Der 15.02. ist der Internationale Tag des Angelman Syndroms. Frei wird deswegen nicht gemacht – aber um auf das Syndrom aufmerksam zu machen, mit dem auch unsere Tochter zur Welt gekommen ist, werden in vielen Städten Gebäude blau beleuchtet.

International Angelman Day

Auch der Schirmherr des Angelman Vereins Jürgen Vogel ist heute etwas blau geworden… DANKE!!!

Jürgen Vogel, der Schirmherr des Angelman e.V.

Wollt ihr auch blau machen?

Schaut hier was Typisch Angelman ist und/oder unterstützt die Aktion und den Verein mit eurer Spende!

Der unromantischste Valentinstag meines Lebens: Valentin, fall nicht hin!

Da morgen wieder der 14. Februar ist und ich seltenerweise auch daran denke, also daran, dass morgen der Valentinstag ist und nicht daran auch diesmal Herztörtchen zu besorgen – eine Rückblende zu dem unromantischsten Valentinstag meines Lebens, der sich vor 2 Jahren – 2020 ereignet hat. Direkt im Anschluss ist die Corona-Pandemie ausgebrochen, was meine Meinung über den Valentinstag verfestigt hat.

Herzförmiges Macronen-Törtchen zum Valentinstag
Am Vanlentinstag beliebt: herzförmige Macaronen-Törtchen

Dass mir ausgerechnet zum Thema Valentinstag etwas einfallen würde, hätte ich nicht vermutet. Allerdings habe ich vor ein paar Tagen meinen Mann dabei erwischt, wie er bei uns in der Garderobe versteckt, auf seinem Handy herumtippte. „Ich habe dir zum Valentinstag etwas bestellt“, erklärte er, als er die Verwunderung in meinen Augen gesehen hat. Nicht, dass es so selten vorkommt, dass er auf seinem Handy tippt. Aber vor einigen Minuten haben wir in ebendieser Garderobe das Erbrochene von unserem Sohn mit gemeinsamen Kräften vom Fußboden, Spiegel, Schuhen… Ihr wisst schon: Magen-Darm eben. Die Duftwolke hing immer noch in der Luft und da sitzt mein ebenfalls an einem Infekt erkrankter Mann und redet vom Valentinstag.

Soll ich mich in einer ganz romantischen Manier zu ihm setzen und auch etwas bestellen? Dafür blieb keine Zeit, denn es ging weiter mit dem Spucken und zwar in anderen Räumlichkeiten in denen der Internetempfang schwach ist. Und ganz ehrlich… Valentinstag? Als eine Nicht-Pubertierende? Herzchen, Blümchen, Küsschen und ganz nebenbei Sagrotan-Duft und die zehnte Waschmaschinenladung vollgespuckter Wäsche? Mit anderen Worten: Ich bin kein besonders romantisch veranlagter Mensch.

Der Gedanke ließ mich aber nicht los – was hat es mit dem Valentinstag so auf sich? Ich habe ein wenig recherchiert und sieh mal an, auf einmal hat das ganze einen Sinn ergeben!

Den Tag verdanken wir nämlich dem heiligen Valentin – einem Märtyrer. Heimlich traute er im antiken Rom Paare, denen die Heirat per Kaisererlass untersagt wurde. Oder so ähnlich – es gab noch mindestens einen weiteren heiligen Valentin und man ist sich nicht sicher, welcher nun für die heutige Tradition verantwortlich ist. Was aber sicher ist: alle beide starben einen Märtyrertod. Keine Romantik ohne Leiden. Keine Liebe ohne Leiden. Oder, wie Schiller es festgehalten hat:

Doch ewig bleibt der Pfeil in deiner Brust;

ich kenn‘ ihn, nie vernarben seine Wunden.

Dein Frieden ist vorbei: Du hast empfunden!

Süß, oder?

Aus dieser Perspektive erschien mir der Valentinstag dann doch ganz nett. Was mich aber vollkommen überzeugt hat, diese Tradition ab jetzt zu pflegen ist: Epilepsie. Ja. Beide heiligen Valentins galten als Schutzpatronen gegen die „Hinfallende Krankheit“ also Epilepsie eben. Luther verwies seinerzeit sogar auf den oberwitzigen Reim: »Valentin – Fall-nicht-hin«. Wie treffend. Damit ist der Tag wie geschaffen für unsere Familie, denn auch mit Epilepsie unserer Tochter müssen wir uns öfter beschäftigen.

„Wer in einer glücklichen Beziehung mit seiner großen Liebe lebt, der möchte sich für den Valentinstag etwas ganz Besonderes einfallen lassen“, stand es in einem Online-Magazin. Ich dachte da an herzförmige Macaron-Törtchen und habe sie morgens am 14.02. besorgt. Mein Mann war deutlich kreativer und dachte an einen Krankenhausaufenthalt – für sich. Der Infekt, den er seit einigen Tagen ausbrütete, mutierte in der Nacht vom 13. auf den 14.02. zu einer Bestie.

Als ich meiner großen Liebe am Valentinstag das herzförmige Törtchen überreichen wollte, lag die große Liebe da und leidete. Das Bettlaken war wesentlich fitter als mein Mann. Nachdem unsere Tochter die ganze Nacht durchgehend gehustet hat, packte ich sie und den Empfänger meines herzförmigen Törtchens ins Auto und fuhr beide zum Arzt. Meine Tochter kriegt jetzt ein Antibiotikum. Mein Mann kriegte eine Einweisung ins Krankenhaus.

Sein herzförmiges Törtchen habe ich selber aufgegessen. Und wisst ihr was? Es war viel zu süß!

Lust auf mehr? Hierlang zu dem Beitrag über die alljährliche Infektparade zur Faschingszeit.

Ohne Handy unterwegs – handylos in der Stadt überleben…

Das Handy ist weg. Die Nerven liegen blank. Ein Hürdenlauf beginnt: Eine Katastrophe jagt die nächste. Ist euch auch schon mal so etwas passiert? Dann ist dieser Text für euch!

Ohne Handy, ohne GPS, ohne meine vier treuen Satelliten
Wehrlos ohne Handy – Diese und mehr von den tollen Zeichnungen von Kura findet ihr auf Kura zeichnet.  Oder auch hier.

Von nun an bin ich der Wildnis des Lebens komplett ausgeliefert. Der ultimative Überlebenskampf hat begonnen. Er hat in der U-Bahn begonnen, in dem Moment, in dem ich gemerkt habe, ich bin smartphonelos unterwegs. Smartphonelos! Mein Handy ist nicht hier, sondern in meinem auf ‚Park & Ride‘ abgestellten Auto. Ich bin mittlerweile kilometerweit davon entfernt. Mit jeder U-Bahn-Station wird die Entfernung immer größer… Ich bin nur auf mich selbst gestellt. Ohne meine vier treuen Satelliten, ohne Ortungssysteme, ohne Telefonjoker. Ohne Kamera. Ohne meine schönsten Fotoerinnerungen. Ohne E-Mails, Notizen, ohne meinen Kalender und ohne Taschenlampe. Schutzlos. Kontaktlos. Orientierungslos. Verwirrt… Mein Atem stockt und ich fange an zu schwitzen. Werde ich es schaffen?

Ich muss an den Survival-Profi Bear Grylls denken, wie er im Rückwärtssalto aus dem Helikopter hüpft, nur mit einem Messer, einem Becher und 30 Meter Seil im Gepäck, der Wildnis Kolumbiens wehrlos ausgesetzt… Werde ICH es schaffen, Bear?

Smart ohne Smartphone? Handylos unterwegs.

Wie soll ich nun von A nach B kommen? Woher soll ich wissen, wie lange ich dafür brauche. Und wo bitte sehr ist das B denn überhaupt?! Mein Nachwuchs sitzt bestimmt schon unterkühlt vor der Haustüre, weil ich den Anruf, dass das Kind gerade zweieinhalb Mal gehustet hat und nun abgeholt werden muss, DEN Anruf habe ich nicht annehmen können. In unserem Fall könnte es wirklich noch deutlich schlimmer kommen. Vielleicht ist unsere Tochter mit dem Angelman Syndrom bereits unterwegs in ein Krankenhaus. Ganz alleine. Niemand zum Händchenhalten da. Niemand, der Auskunft geben kann. Ich stelle mir vor, wie die Polizei auf einmal vor mir steht und fragt: Sind sie Frau Hannemann, Mutter von Hela und Emil? Haben Sie etwa ihr Handy vergessen und fahren hier munter vor sich hin U-Bahn, während das eine Kind vor der Haustür unterkühlt sitzt und das andere ins Krankenhaus gefahren wird?!

Ich atme ein paar Mal ein uns aus. Es fällt mir wieder ein, dass da noch der Vater der Kinder und mein Ehemann existiert und höchstwahrscheinlich telefonisch erreichbar ist – auf der Arbeit. Er ist eigentlich auf der Arbeit immer erreichbar. Also vielleicht schaffen wir es ohne Polizeieinsatz. Ich könnte ihm theoretisch Bescheid geben, wenn ich es je geschafft hätte, mir seine Rufnummer zu merken.

Ohne Handy unterwegs - Mama stellt sich vor, was mittlerweile alles passiert ist.

Soll ich aussteigen und zurückfahren und dann erneut die gleiche Strecke fahren? Das würde den Termin in der Stadt überflüssig machen, denn dann komme ich 1,5 Stunden zu spät. Das wird auffallen. Was sagt der Überlebensexperte: Gib niemals auf! Glaub an dich! Ich schaffe es. Ich schaffe es. Ich schaffe es!

Mein Mobil Device – komplett unmobil

Ich bleib in der U-Bahn sitzen und fahre weiter, immer weiter… Neben mir tippen alle auf ihren Handys rum. Alle lesen auf ihren Smartphones, chatten mit der Familie, organisieren und arbeiten an ihren Mobile Devices. Mein Mobile Device ist gerade total unmobil und damit wurde ich zu einem Außenseiter. Ich hole aus meinem Rucksack einen Schreibblock und einen Kugelschreiber und will diesen Text hier aufschreiben. Per Hand. Der junge Mann neben mir schaut auf mich, als wäre ich Santa Claus… Ich werfe mir meinen karierten Schal theatralisch um den Hals und mache auf Künstler. Der junge Mann schaut skeptisch auf meinen Block – da stehen Notizen aus einem anderen Seminar mit einer dicken Überschrift: die Rentenlücke… Ich drehe ihm meine Schulter zu und fange auf dem nächsten Blatt an zu schreiben…

Just als ich die erste Zeile heruntergeschrieben habe, fällt mir noch eine weitere Sache ein, die ich ohne mein Handy nicht dabei habe: meinen Impfnachweis. (Hier lang zu meiner Best-of-Corona-Liste) Der muss vor Beginn des Seminars zwingend vorgezeigt werden…

Gib niemals auf!

‚Gib niemals auf!‘, flüstert der Surivival-Experte Bear in mein linkes Ohr, ‚Im Überlebenskampf ist es wichtig, einfach immer weiterzumachen.‘ So mache ich von nun an einfach bloß immer weiter. Eine Hürde nach der nächsten. Nachdem ich es verspätet zu dem Workshop schaffe (wo ist B denn bitte sehr?), die Einlasskontrolle mit dem festen, schriftlich bekräftigten Versprechen des Nachschickens des Impfnachweises positiv bestehe, wird mir auf dem Nachhauseweg klar, dass ich es nie rechtzeitig schaffen werde, meinen Sohn von der Schule abzuholen. Ausnahmsweise soll er nicht mit den anderen in den Hort gehen, sondern vor der Schule auf mich warten, denn ein Arzttermin steht an, zu dem wir im Anschluss fahren sollen. Mein Plan, bei Verspätung meinen Mann mit dem Abholen zu beauftragen, kann nicht aufgehen! Eine U-Bahn ausgefallen, die nächste U-Bahn paar Minuten später und da sitze ich auf glühenden Kohlen und überlege, wie ich meinen Ehemann, der bereits zu Hause ist, davon in Kenntnis setzen kann, dass unser Kind auf mich vor der Schule wartet und von mir NICHT rechtzeitig abgeholt wird.

Handylos. Eigentlich frei und doch gerade nervlich am Ende. Auch der Sprint von der U-Bahn zum Auto kann die verlorenen Minuten nicht zurückdrehen, die eine kleine Lawine von Ereignissen ins Rollen bringen… Nein, eigentlich ist nichts Schlimmes passiert. Unser Kind findet sicher nach Hause, alle Institutionen werden eigentlich zu spät, aber doch noch im akzeptablen Rahmen benachrichtigt. Eigentlich ist nichts Großes passiert. Trotzdem bin ich am Abend fix und fertig. Ich verspreche mir, nie, nie, NIE wieder mein Handy zu vergessen. Ich will erneut versuchen, mir die Rufnummer von meinem Ehemann einzuprägen. Oder zumindest unsere Festnetznummer. Ich MUSS sofort – auf der Stelle – damit anfangen. Nur, wo ist denn bloß mein Smartphone? War es nicht eben noch auf dem Couchtisch? Nein, nein, kein Grund gleich panisch zu werden: diesmal kann ich mich ja selbst anrufen, ha! Es klingelt bloß nirgendwo… Außer… Es ist immer noch im Auto….

Falls euch gerade auch das Gleiche passiert, könnt ihr gerne meinen Beitrag teilen… Beziehungsweise, wenn ihr das Handy wieder findet;)

Und heute… Die nackten Singularitäten

Kosmische Zensur: Die Natur verabscheut nackte Singularitäten. Definition aus einem Buch von S. Hawking
Achtung! Kosmische Zensur! Ziehen Sie sich bitte an oder machen Sie mal Plural!

Aus einem öffentlichen Bücherschrank habe ich mir ein Buch mitgenommen: ‚Raum und Zeit‘ von Stephen Hawking und Roger Penrose. Womöglich dachte mein Unterbewusstsein, ich werde damit ganz kostenlos mein Bedürfnis nach Raum und Zeit stillen können. Mein Verstand hat darauf gehofft, endlich die Sache mit der Zeit, den Schwarzen Löchern, der Physik und so, in einfachen Worten (denn das Buch ist eher dünn) erklärt zu bekommen.

Leute, ich verstehe zwar so gut wie kein Wort davon und die Abbildungen verursachen bei mir ernsthafte Selbstzweifel aber als Ausgangspunkt für eigene Gedanken finde ich das Buch sehr inspirierend!

Vor allem den Satz von S. Hawking auf dem Bild oben: Die Natur verabscheut nackte Singularitäten. Was die Physiker damit meinen, ist ihre Sache. Ich, als Geisteswissenschaftlerin, kann das nur als einen Aufruf verstehen. Wenn man denn schon nackt ist, soll man nicht singulär bleiben! Die Natur verabscheut das.

Deswegen heute: nackte Pluralität! Für die Wissenschaft!

Physik als Fach beschäftigt mich hin und wieder – wieso, könnt ihr in dem Text Das schwarze Loch – 20 Jahre nach dem Physikunterricht nachlesen.

Und heute… Pläne für die Zukunft.

Ein blätterloser Baum ragt in den blauen Himmer empor... Wartend auf die Zukunft

Weniger Licht, weniger Wärme, die Natur hält inne, der Mensch sitzt lieber drin und schmiedet Pläne für die Zukunft.

Schnell noch mit dem letzten Jahr abrechnen – falls man selbst keine Lust hat, einen Jahresrückblick zu verfassen, übernimmt Google Fotos das schon für eine/n. Dann knallt es an Silvester und da die Weihnachtszeit auch schon vorbei ist, bleibt bis zum Frühling quasi nichts Anderes als die Zukunft in Form von Bullet Points und guten Vorsätzen zu beschwören.

‚Neues Jahr, Neues Glück!‘ sowie ‚Das Schicksal spielt mit dem Menschen und der Mensch spielt Trompete.‘

Willkommen 2022.

Eigentlich ist 2022 das erste seit vielen Jahren, in dem ich, trotz des Intervallschlafens und der aktuell sehr schlaflosen Nächten, etwas Energie habe, um irgendwelche Pläne für Zukunft zu schmieden. Für eine Zukunft, die etwas weiter gedacht ist, als die nächsten 24 Stunden.

In den letzten Jahren waren unsere Kinder, vor allem aber unsere Hela, seit etwa Ende Oktober bis Anfang Mai mehr oder weniger durchgehend krank… Ich weiß nicht, ob man im Fall von der Corona-Pandemie für irgendetwas dankbar sein muss – aber man kann… Und so bin ich dafür dankbar, dass die ganzen Hygiene-Regeln, die einer/einem manchmal wirklich SOOO viel abverlangen, uns trotzdem ermöglicht haben, halbwegs gesund durch das letzte Jahr zu kommen – ohne andauernde Infekte, ohne Blaulicht des Krankenwagens, ohne Sauerstoffgeräte und ohne der Notaufnahme…

2022 – ich bin bereit!

Die Weihnachtsgeschichte

Dieser Text ist 2017 entstanden und erinnert mich auch 2021 immer noch daran, was zu Weihnachten für mich wirklich wichtig ist… In meinem Inneren – da schlummert nämlich die polnische Weihnachtstradition, die zwickt und drückt und ermahnt, dass eigentlich 12 Speisen am Heiligabend auf dem Tisch stehen sollten, dass sie alle ganz perfekt schmecken und auf traditionelle Art zubereitet werden sollten und dass die Fensterscheiben glänzen müssen… Dann lese ich diesen Text und erinnere mich an die Weihnachten 2017 und daran, was wirklich zählt.

Es ist Freitag, der 23. Dezember, ein grauer und unangenehm kühler Tag und ich renne gerade einem Krankenwagen hinterher. Sogar auf den Straßen von unserem kleinen Ort ist Einiges von dem Weihnachtstrubel zu spüren. Der Krankenwagen kommt durch die einzigen zwei größeren Kreuzungen auch mit Sirene nicht besonders flott durch. Zum Glück, denn so kann ich mithalten. Ich weiß, dass er zur Praxis von unserem Kinderarzt fährt, um von dort meine Tochter ins Krankenhaus zu bringen. Sie hatte in der Praxis erneut einen langen epileptischen Anfall. Der Papa ist bei ihr, aber ich will unbedingt mitfahren. Deswegen renne ich. Zum Umziehen war nach dem telefonischen Update von meinem Mann keine Zeit. Wie gut, dass ich heute nicht die furchtbare Schlabberhose angezogen habe, die ich trotz der skeptischen Blicke meines Ehegatten doch ab und zu mal zuhause trage.

Mitten in der Nacht hatte Hela zum ersten Mal die epileptischen Anfälle, vor denen wir schon seit der Diagnosestellung Angst hatten. Epilepsie gehört zum Syndrombild dazu: wir wussten, dass sie irgendwann mal kommen werdem. Vorbereitet ist man darauf trotzdem nie. Die Uhr sagte, die Anfälle in der Nacht dauerten nicht lange – gefühlt eine Ewigkeit. 1 Minute… 2 Minuten… 2 Minuten in denen ein Tornado im Gehirn und Körper meiner Tochter wütet und ich nichts machen kann, außer sie im Arm zu halten, auf die Uhr zu schauen und nach 3 Minuten das Notfallmedikament zu verabreichen. Diesmal kommt sie ohne aus und schläft irgendwann mal vollkommen erschöpft ein. Morgens macht sie einen munteren Eindruck, der Papa nimmt sie trotzdem zum Kinderarzt und dort passiert es wieder. Sie krampft – ein „Grand Mal“ Anfall, der Kinderarzt beschließt einen Krankenwagen für uns zu rufen, der uns in die Klinik bringt. Es ist ein Tag vor Heiligabend, bald wird ja überall tote Hose sein.

Im Krankenhaus wird uns empfohlen da zu bleiben. Hela kommt zwar zu sich, es waren aber die ersten Krampfanfälle und keiner weiß, was noch passieren kann. Vielleicht ist es vorbei, vielleicht krampft sie gleich wieder. Auf der Flur steht ein geschmückter Weihnachtsbaum. Ich überlege, ob wir unsere Geschenke morgen darunter legen sollen oder ob der Weihnachtsmann dieses Jahr an einem anderen Tag kommen soll. Unser Sohn wartet ja seit Wochen auf den Weihnachtsmann… Jetzt ist die Hälfte der Familie weg im Krankenhaus und keiner weiß, wie es weiter geht.

Wegen Helas Schlafstörung wurde uns eigentlich ein Einzelzimmer zugesprochen. Es ist aber ganz schön was los einen Tag vor Weihnachten und so landen wir doch mit einem anderen Jungen und seiner Mutter im Zimmer. Das Kind ist in Helas Alter. Es rennt fröhlich hin und her, ruft „Mama“ und sonst auch einzelne Wörter in einer mir unbekannten Sprache. Der Junge ist wegen Fieberkrämpfe hier. Mir ist überhaupt nicht nach Krankenhaus-Smalltalk und Erklärungen zu Helas Syndrom. Keine Lust auf die mitleidigen Blicke, auf „Oh, wie furchtbar, das tut mir leid…“ und auch nicht auf die Vergleiche, die auf „Da können WIR uns ja gar nicht beschweren“ hinauslaufen. Glücklicherweise ist der anderen Mutter auch nicht nach Reden. In der Nacht werden wir mit Hela immer wieder von den lauten Rufen des Jungen geweckt. Er redet im Schlaf und zwar in der Lautstärke, die einen Toten geweckt hätte und auf jeden Fall ein schlafgestörtes Mädchen und dessen Mutter.

Am nächsten Tag kommen wir mit der anderen Mama doch ins Gespräch.

„Ich weiß nicht, warum ich so müde bin“, sagt sie. Dann fängt sie an zu erzählen, als wollte sie ihre Müdigkeit rechtfertigen. Der Junge redet nachts so laut, weil er auf einem Ohr ganz schlecht hört. Das ist bereits das 6. Mal, dass sie mit ihm wegen Fieberkrämpfe ins Krankenhaus musste. Das ist aber halb so wild, meint sie. Mit seinem Zwillingsbruder ist sie viel öfters in diversen Krankenhäusern. Sie kennt eigentlich alle in der Stadt. Deutsch hat sie ja dort gelernt – mit den Krankenschwestern. Sie spricht ein sehr anständiges Deutsch. Die Zwillinge sind beide Frühchen, in der 25. Woche geboren. Sie waren lange im Krankenhaus nach der Geburt. Der andere Bruder hat Trisomie 21, das Down-Syndrom und durch die Frühgeburt Probleme mit fast allem, vor allem aber mit der Atmung. Epilepsie hat er auch. Sie können mit ihm nicht so einfach rausgehen in den Park oder auf den Spielplatz, weil er an so vielen Schläuchen hängt. Immer muss eine Sauerstoff-Pumpe mit. Das ist schwierig wegen seines Zwillingsbruders und der 3 älteren Schwestern. Sie würden ja gerne öfter zum Spielplatz mit der Mama. Die Frau beschwert sich nicht. Sie erzählt sachlich und sehr gefasst und passt währenddessen liebevoll auf ihren Sohn auf, der hin und her rennt und eindeutig genug von dem engen Krankenhauszimmer hat.

Es ist Heiligabend. Nach stundelangem Warten dürfen wir am Nachmittag doch beide nach Hause. Der Papa holt uns ab und wir fahren die andere Mama und ihren Sohn heim. Ihr Mann muss ja auf die anderen Kinder aufpassen und da sie neu in der Stadt, sind, kennen hier kaum jemanden, wer sie sonst abholen könnte. Und als der Junge gekrampft hat, war die Mama so unter Strom, dass sie vergessen hat eine Jacke und Mütze für ihn einzupacken.

Dann, am sehr späten Nachmittag landen wir endlich bei uns Zuhause, pünktlich zum Fest. Die Wohnung sieht aus, als hätte da eine Bombe eingeschlagen, denn während sich meine Eltern um das Kochen, Braten und Backen gekümmert haben, beschäftigte sich unser Sohn mit der kreativen Raumgestaltung. Es sind nicht, wie es die polnische Tradition vorschreibt, 12 Speisen auf dem Tisch. Die wenigen Sachen aus dem ausgedehnten traditionellen Menü, die es diesmal bei uns gibt, schmecken köstlich, auch wenn hier und da etwas Salz fehlt und manches etwas angebrannt oder kalt serviert wird. Alles schmeckt fantastisch. Unsere ganze Familie sitzt am Tisch – wir dürfen alle zusammen sein. Alle dabei. Unter unserem Weihnachtsbaum türmen sich Geschenke, wie immer viel zu viele. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, das alles an diesem Heiligabend gut ist, so wie es ist, ganz jenseits der Perfektion. Dieses Jahr bin ich unendlich dankbar für alles, was wir haben und weiß, wie viel das ist.

Zum Tod meiner Mutter

Ein Anruf und dann ist man bei den absolutistischen Kategorien angekommen. Nie wieder. Für immer.

‚Mama ist tot‘, sagt mein Vater am Telefon.

Wie kann jemand tot sein, der doch vor Kurzem noch am Leben war? Wie kann es sein, dass ein Mensch, der IMMER da war, seit der allerersten Sekunde meines Lebens – auch nach der streng katholischen Definition des Lebens – in jeder Minute, in jeder Stunde, nicht immer bei mir, aber immer da, irgendwo, irgendwie erreichbar, wie kann die Person mit bloß einem Anruf weg sein?

Vor dem Anruf war sie da. Nach dem Anruf ist sie tot. Für immer.

Entschuldigen Sie, das Gespräch ist beendet. Die gemeinsame Zeit auf Erde ist um. Endgültig. Ihr Guthaben ist vollständig ausgeschöpft und kann nie wieder aufgefüllt werden. Keine einzige Minute Verlängerung. Das war´s. Vorbei. Wir wünschen Ihnen alles Gute und bleiben Sie gesund.

Was wir nicht gemacht haben, werden wir nie wieder gemeinsam machen. Niemals.

Was wir nicht erfragt haben, werden wir nie wieder erfragen. Nie.

Was wir nicht gesagt haben, bleibt ungesagt. Für immer.

Sie war immer da. Jetzt ist sie für immer nicht mehr da.

Nichts Neues unter der Sonne.

Seit dem Anruf kann ich nicht aufhören zu weinen. Nur noch ein paar Tage fehlen bis zu meinem runden Geburtstag – vor knapp 40 Jahren hat sie mich zur Welt gebracht. Es war eine schwierige Geburt. Hin und wieder hat sie mich als Kind auf Polnisch „mein Leben“ genannt. Als ich selbst Mutter wurde, hat sie mir den Grund dafür erklärt – dass sie bei meiner Geburt dachte, sie würde sie womöglich nicht überstehen. Sie hat die Entbindung überlebt – ich war da und habe als erstes geschrien und geweint, wie jedes Neugeborene auch. Jetzt, 40 Jahre später, weine ich, weil meine Mutter nicht mehr da ist. Die Nabelschnur wurde mit ihrem Tod zum zweiten Mal durchtrennt. Wieder eine Abnabelung wider Willen.

Das Nie wieder hat bei uns bereits vor längerer Zeit angefangen.

‘Ich komme nie wieder selbst hierher‘, hat sie auf dem Weg zum Flughafen vor drei Jahren gesagt, als ihr Besuch bei uns zu Ende war. Sie saß in der S-Bahn in ihrer schicken Baskenmütze, Lederhandschuhe farblich auf die Handtasche abgestimmt und die Tränen liefen über ihre Wangen.

‚Ach was, mach dir keine Sorgen. Wir finden schon einen Weg‘, habe ich versucht, sie – vor allem aber mich selber – zu trösten. Wir wussten beide, dass sie recht hatte. Sie hat uns wieder besucht, aber nur noch in Begleitung, nie wieder alleine. Die Krankheit hat ihr stückchenweise ihre Stimme, ihre Freiheit und dann die Welt um sie herum geraubt. Uns hat sie mit gnadenloser Beharrlichkeit nach und nach unsere Mutter geklaut. Ihr Tod kam trotzdem für alle unerwartet, eigentlich hätte sie noch leben müssen.

Vor zwei Tagen habe ich ihre Hausschuhe weggeworfen. Robuste Lederpantoffeln, Größe 38, Zustand fast wie neu – bestimmt extra für die Reise zu uns gekauft. Sie lagen bei uns im Schuhschrank seit unsere Kinder auf der Welt waren. Bei ihrem langen Besuch nach der Geburt von unserem Sohn oder vielleicht unserer Tochter, hat sie sie aus Polen mitgebracht und vergessen wieder mitzunehmen. Nichts für ungut dachten wir, dann muss sie nicht jedes Mal die Hausschuhe über 900 Kilometer hin und wieder zurück im Gepäck schleppen. Die warten hier auf sie. Benutzt hat sie sie seitdem nie wieder. Jedes Mal hat sie erneut vergessen, dass ihre Pantoffeln bei uns sind und wieder welche aus Polen mitgebracht. Trotzdem warteten sie auf ihren nächsten Besuch im Schrank. Sie warteten auf sie auch noch, als es bereits klar war, dass sie nie wieder kommen wird, weder alleine noch in Begleitung. Die Pantoffeln trotzten der Endgültigkeit und hielten ihre Stellung. Für den Fall, dass doch, mag sein, dass nie wieder, aber wieso eigentlich wegwerfen, wo sie fast wie neu sind. Sie waren da, für den Fall. Solange sie gelebt hat. Jetzt sind sie weg. Wer soll denn die Exil-Hausschuhe meiner verstorbenen Mutter noch tragen?

Als die Tagesschau abends am Tag des Anrufs losgeht,  frage ich mich kurz verständnislos, wieso der Sprecher nicht mit der wichtigsten Nachricht des Tages anfängt:

„Meine Damen und Herren, ich begrüße sie zur Tagesschau. Heute, am 18. November ist A. T-K, die Mutter von Gosia Hannemann im Alter von 69 Jahren unerwartet verstorben.“

Nichts Neues unter der Sonne.

Meine Mama ist genau vor zwei Wochen gestorben. In den Tagen nach ihrem Tod hat mir dieser Text sehr geholfen: https://www.ohhhmhhh.de/wie-ueberlebt-man-den-tod-der-eltern/

Und heute… Eine Nachricht aus dem Jenseits

Weil ja Halloween naht und wir aber nicht so die große Gruselverkleidungsfraktion sind, wärme ich heute einen Beitrag wieder auf, der von unserer Kommunikation mit dem Jenseits erzählt…

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Es ist einer der ersten Frühlingstage. Wir wollen mit Emil Kräuter auf dem Balkon pflanzen. Wir haben keine Blumenerde. Wir haben einen Sack Graberde im Keller, da im Herbst wo wir eigentlich etwas einpflanzen wollten aber nicht dazu gekommen sind, da war keine Blumenerde mehr im Gartencenter zu kriegen. Wir haben hier vor Ort kein Grab, für das wir die Erde verwenden könnten, also kommt die Graberde in die Blumenkästen auf dem Balkon. Wir befördern die Graberde in die Kästen mit Emils Buddelzeug, da wir mangels Garten auch kein ordentliches Gartenwerkzeug besitzen. Auf einmal leuchtet da was Buntes auf der Schaufel. Wir inspizieren es genauer – es ist ein orangener Gummiring mit der Aufschrift: „Live stronger“. In einem Sack Graberde versteckt! Kann DAS ein Zufall sein?

War die Nachricht für die Grabbewohner oder Grabpfleger gedacht? Oder ganz gezielt an uns?

Der Beitrag ist am 27.04.2017 entstanden und am 29.10.2021 aktualisiert worden.