Archiv für den Monat: August 2017

Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen

Manche Eltern beschäftigt das Thema mehr, manche weniger. Konfrontiert werden mit ihm alle, die ein Kind erwarten – spätestens wenn man sich für oder gegen die Nackenfaltenmessung und sonstige Pränataldiagnostik entscheiden muss. Ich habe mir die Frage nach der Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen nie gestellt… Hätte ich es tun sollen?

Im Jahre 1997 fiel auf ein japanisches Fischerboot, das sich im Ochotskischen Meer befand, eine Kuh vom Himmel. Das Fischerboot wurde komplett zerstört, die Fischer konnten gerettet werden. Allerdings wurden sie erst mal verhaftet, denn die Geschichte von der fliegenden Kuh hat man ihnen nicht abgenommen. Spätere Ermittlungen ergaben, dass dies die Wahrheit war. Eine Gruppe von russischen Soldaten hat versucht, eine Kuhherde zu stehlen und sie anschließend mit einem Transportflugzeug wegzuschaffen. Die Kühe wurden bei dem Flug unruhig und haben wohl angefangen zu randalieren. Damit das ganze Flugzeug nicht abstürzt, haben die Soldaten die große Heckklappe aufgemacht und die Kühe ausgetrieben. Es regnete Kühe über dem Ochotskischen Meer. Eine von ihnen landete auf dem Fischerboot.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen

Eine Kuh da, wo sie hingehört

Ein Boot auf dem Meer. Kein Riesenfrachter – ein Fischerboot auf einem See mit der Fläche von 1,53 Millionen km2. Die Kuh fällt nicht 2 Meter neben dem Boot. Nein, sie prallt  direkt darauf.

Nun stellt sich die Frage, wie wahrscheinlich ist es, dass man in einem kleinen Fischerboot sitzend von einer vom Himmel fallenden Kuh getroffen wird? Es ist nicht sehr wahrscheinlich. Würde man die Wahrscheinlichkeit ausrechnen wollen, kann ich mir vorstellen (denn ausrechnen kann ich es nicht), dass dabei eine Zahl herauskommen würde, bei der sowohl vor als auch nach dem Komma erst ein paar Nullen stünden.

Für die Bootsinsassen änderte die Wahrscheinlichkeitsrechnung jedoch nichts. Wenn eine Kuh im Anflug ist, sind nur zwei Möglichkeiten relevant: entweder sitzt man in dem Boot oder man ist woanders. 0 oder 1, wenn man es mit Zahlen ausdrücken will.

An diese Geschichte musste ich denken, als ich neulich im Café ein Gespräch von zwei Frauen überhört habe. Offensichtlich hatten beide kleine Kinder und redeten über weitere Familienplanung. „Bei uns ist jetzt Schluss“, meinte die eine. „Ich bin jetzt schon 35, wenn ich jetzt noch mal schwanger werden sollte… Ich habe einen Down-Syndrom-Fall in der nächsten Familie. Das Risiko muss ich nicht haben.“

Die Aussage war nicht besonders rücksichtsvoll, zumal am Tisch direkt daneben eine Schwangere saß, die ihren 30 Geburtstag vermutlich schon längst hinter sich hatte und das ganze Gespräch in einer Lautstärke geführt wurde, die nur als Einladung zum Mithören gemeint sein konnte. Zwei Tische weiter saß ich, Mutter eines behinderten Kindes.

Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen

Ein Fischerboot, womöglich kurz vor einem Kuhaufprall

Ich musste an die Geschichte mit der Kuh denken, denn als wir die Diagnose ‘Angelman Syndrom’ für unsere damals 11 Monate alte Tochter bekommen haben, hat es sich angefühlt, als säßen wir in diesem Fischerboot auf das die Kuh vom Himmel gefallen ist. Monatelang haben wir daran geglaubt ein gesundes, normales, nicht behindertes Kind zu haben. Die Probleme, die bis dahin aufgetreten sind, waren nicht wirklich ungewöhnlich für Kinder dieses Alters. So kam es, dass wir an einem Tag noch ein sich langsam entwickelndes aber „normales“ Kind hatten und wenige Tage später, nach einigen Untersuchungen im Krankenhaus, ein schwerbehindertes. Es kam mir total unwahrscheinlich vor und in den Monaten danach wartete ich verzweifelt darauf, dass ich bitte endlich aus diesem bescheuerten Alptraum aufwache!

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein behindertes Kind bekommen, so hat uns die Humangenetikerin später erklärt, lag genau wie bei allen anderen gesunden und nicht familiär vorbelasteten Paaren bei 3 %. Sie meinte, es wäre gar nicht so wenig. Hätte mich vor der Geburt unserer Tochter jemand gefragt, würde ich dazu sagen: 97 % der Kinder kommen unbehindert zur Welt.

Seit der Diagnose weiß ich, dass Wahrscheinlichkeiten nur etwas für Finanzanalysten und Krankenkassen sind. Und für Menschen, die daran glauben, dass solche Zahlen Ihnen Kontrolle über das eigene Leben geben können. Das Leben macht trotzdem immer was es will, egal in welche Zahlen die Menschen es schmücken. Es kommt, wie es kommt, unabhängig davon wie viele Statistiken man vorher studiert hat. Entscheidet man sich für ein Kind, muss man damit rechnen, dass es anders wird, als man sich das vorgestellt hat. Ist es ein Grund, sich gegen Kinderkriegen zu entscheiden?

Sind 3 % ein geringes Risiko oder „gar nicht so wenig“? Wie viel Prozent ist nicht mehr vertretbar? Wie anders darf das Kind sein?

Es gibt so viele Familien, in denen Kinder nicht den „richtigen“, sprich den von den Eltern gewünschten Lebensweg, einschlagen. Sie haben nicht den richtigen Beruf, nicht die richtige sexuelle Orientierung, falsche religiöse Ansichten, den falschen Mann/die falsche Frau an ihrer Seite, falsche politische Ansichten. Ist das ein Grund um sich gegen Kinderkriegen zu entscheiden? Ein Grund, um diese Kinder weniger zu lieben?

Kinder und das Leben mit ihnen werden in aller Regel anders, als man sich das vorgestellt hat. Wäre die Menschheit glücklicher, wenn alle Kinder genauso sein würden, wie sich das deren Eltern ausgemalt haben? Die Wahrscheinlichkeit, dass dies je eintritt, kann selbst ich, mathematisch minderbemittelt (zum großen Bedauern von meinem Vater), ausrechnen. Sie beträgt 0 %.

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Ein heißer Sommertag. Es sind 35 Grad Celsius und alle, die nur können, versuchen ihre überhitzten Gehirnzellen irgendwie abzukühlen. Ich beschließe Emil etwas früher von der Kita abzuholen und mit ihm an einen See zu fahren.

Wir fahren mit dem Auto. Ich am Steuer, Emil hinten. Die Klimaanlage läuft, trotzdem haben wir offensichtlich beide das Gefühl kurz vor einer persönlichen Kernschmelze zu stehen. Auf der Strecke, auf der wir uns befinden, ist es schwierig bis unmöglich problemlos anzuhalten.

„Mama, ich wollte eigentlich mit Papa an den See fahren“, verzieht Emil sein Gesicht.

„Papa musste mit Hela zuhause bleiben, weil sie krank ist.“

„Aber ich wollte, dass wir alle zusammen fahren! Buhuuu“, Emil fängt an zu weinen.

„Ja, mir wäre das auch lieber. Leider kann Hela heute nicht an den See, sie kann auch nicht alleine zuhause bleiben und ich will nicht, dass wir alle zuhause sitzen, sondern dass zumindest wir an den See fahren und ein bisschen schwimmen.“

Emil überlegt einen Moment und weint dann weiter.

„Aber ich will hier hinten nicht alleine sitzen. Buhuuu.“

„Wir fahren nicht lange. Noch ein paar Minuten und wir sind da.“

„Aber es ist zu heiß.“

„Die Klimaanlage läuft. Gleich wird es kühler sein. Und bald hüpfen wir auch ins kühle Wasser.“

„Aber ich will nicht, dass es so heiß ist. Buhuuu.“

„Im Sommer ist es halt manchmal so heiß. Dann kann man auch im See schwimmen gehen.“

„Mein Gurt ist nass. Buhuuuu“, leidet Emil weiter.

„Er ist nass von deinen Tränen, weil du seit einer Weile weinst.“

„Ich will nicht, dass er nass ist. Buhuuuu“, Emil weint ununterbrochen weiter.

„Und jetzt ist er noch nasser! Buhuuuu“, schreit er verzweifelt 2 Minuten später.

Zum Glück kommen wir an. Nach 15 Minuten von komplizierten Parkmanövern finden wir doch noch eine Parklücke auf dem überfüllten Parkplatz. Wir breiten die Handtücher aus und ziehen die verschwitzten Kleider aus. Wir laufen barfuß über das Gras, essen Kirschen und spucken mit den Kernen. Wir schwimmen im herrlich kühlen See. Das Leben meint es gut mit uns.