Zum Tod meiner Mutter

Ein Anruf und dann ist man bei den absolutistischen Kategorien angekommen. Nie wieder. Für immer.

‚Mama ist tot‘, sagt mein Vater am Telefon.

Wie kann jemand tot sein, der doch vor Kurzem noch am Leben war? Wie kann es sein, dass ein Mensch, der IMMER da war, seit der allerersten Sekunde meines Lebens – auch nach der streng katholischen Definition des Lebens – in jeder Minute, in jeder Stunde, nicht immer bei mir, aber immer da, irgendwo, irgendwie erreichbar, wie kann die Person mit bloß einem Anruf weg sein?

Vor dem Anruf war sie da. Nach dem Anruf ist sie tot. Für immer.

Entschuldigen Sie, das Gespräch ist beendet. Die gemeinsame Zeit auf Erde ist um. Endgültig. Ihr Guthaben ist vollständig ausgeschöpft und kann nie wieder aufgefüllt werden. Keine einzige Minute Verlängerung. Das war´s. Vorbei. Wir wünschen Ihnen alles Gute und bleiben Sie gesund.

Was wir nicht gemacht haben, werden wir nie wieder gemeinsam machen. Niemals.

Was wir nicht erfragt haben, werden wir nie wieder erfragen. Nie.

Was wir nicht gesagt haben, bleibt ungesagt. Für immer.

Sie war immer da. Jetzt ist sie für immer nicht mehr da.

Nichts Neues unter der Sonne.

Seit dem Anruf kann ich nicht aufhören zu weinen. Nur noch ein paar Tage fehlen bis zu meinem runden Geburtstag – vor knapp 40 Jahren hat sie mich zur Welt gebracht. Es war eine schwierige Geburt. Hin und wieder hat sie mich als Kind auf Polnisch „mein Leben“ genannt. Als ich selbst Mutter wurde, hat sie mir den Grund dafür erklärt – dass sie bei meiner Geburt dachte, sie würde sie womöglich nicht überstehen. Sie hat die Entbindung überlebt – ich war da und habe als erstes geschrien und geweint, wie jedes Neugeborene auch. Jetzt, 40 Jahre später, weine ich, weil meine Mutter nicht mehr da ist. Die Nabelschnur wurde mit ihrem Tod zum zweiten Mal durchtrennt. Wieder eine Abnabelung wider Willen.

Das Nie wieder hat bei uns bereits vor längerer Zeit angefangen.

‘Ich komme nie wieder selbst hierher‘, hat sie auf dem Weg zum Flughafen vor drei Jahren gesagt, als ihr Besuch bei uns zu Ende war. Sie saß in der S-Bahn in ihrer schicken Baskenmütze, Lederhandschuhe farblich auf die Handtasche abgestimmt und die Tränen liefen über ihre Wangen.

‚Ach was, mach dir keine Sorgen. Wir finden schon einen Weg‘, habe ich versucht, sie – vor allem aber mich selber – zu trösten. Wir wussten beide, dass sie recht hatte. Sie hat uns wieder besucht, aber nur noch in Begleitung, nie wieder alleine. Die Krankheit hat ihr stückchenweise ihre Stimme, ihre Freiheit und dann die Welt um sie herum geraubt. Uns hat sie mit gnadenloser Beharrlichkeit nach und nach unsere Mutter geklaut. Ihr Tod kam trotzdem für alle unerwartet, eigentlich hätte sie noch leben müssen.

Vor zwei Tagen habe ich ihre Hausschuhe weggeworfen. Robuste Lederpantoffeln, Größe 38, Zustand fast wie neu – bestimmt extra für die Reise zu uns gekauft. Sie lagen bei uns im Schuhschrank seit unsere Kinder auf der Welt waren. Bei ihrem langen Besuch nach der Geburt von unserem Sohn oder vielleicht unserer Tochter, hat sie sie aus Polen mitgebracht und vergessen wieder mitzunehmen. Nichts für ungut dachten wir, dann muss sie nicht jedes Mal die Hausschuhe über 900 Kilometer hin und wieder zurück im Gepäck schleppen. Die warten hier auf sie. Benutzt hat sie sie seitdem nie wieder. Jedes Mal hat sie erneut vergessen, dass ihre Pantoffeln bei uns sind und wieder welche aus Polen mitgebracht. Trotzdem warteten sie auf ihren nächsten Besuch im Schrank. Sie warteten auf sie auch noch, als es bereits klar war, dass sie nie wieder kommen wird, weder alleine noch in Begleitung. Die Pantoffeln trotzten der Endgültigkeit und hielten ihre Stellung. Für den Fall, dass doch, mag sein, dass nie wieder, aber wieso eigentlich wegwerfen, wo sie fast wie neu sind. Sie waren da, für den Fall. Solange sie gelebt hat. Jetzt sind sie weg. Wer soll denn die Exil-Hausschuhe meiner verstorbenen Mutter noch tragen?

Als die Tagesschau abends am Tag des Anrufs losgeht,  frage ich mich kurz verständnislos, wieso der Sprecher nicht mit der wichtigsten Nachricht des Tages anfängt:

„Meine Damen und Herren, ich begrüße sie zur Tagesschau. Heute, am 18. November ist A. T-K, die Mutter von Gosia Hannemann im Alter von 69 Jahren unerwartet verstorben.“

Nichts Neues unter der Sonne.

Meine Mama ist genau vor zwei Wochen gestorben. In den Tagen nach ihrem Tod hat mir dieser Text sehr geholfen: https://www.ohhhmhhh.de/wie-ueberlebt-man-den-tod-der-eltern/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.