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Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen

Manche Eltern beschäftigt das Thema mehr, manche weniger. Konfrontiert werden mit ihm alle, die ein Kind erwarten – spätestens wenn man sich für oder gegen die Nackenfaltenmessung und sonstige Pränataldiagnostik entscheiden muss. Ich habe mir die Frage nach der Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen nie gestellt… Hätte ich es tun sollen?

Im Jahre 1997 fiel auf ein japanisches Fischerboot, das sich im Ochotskischen Meer befand, eine Kuh vom Himmel. Das Fischerboot wurde komplett zerstört, die Fischer konnten gerettet werden. Allerdings wurden sie erst mal verhaftet, denn die Geschichte von der fliegenden Kuh hat man ihnen nicht abgenommen. Spätere Ermittlungen ergaben, dass dies die Wahrheit war. Eine Gruppe von russischen Soldaten hat versucht, eine Kuhherde zu stehlen und sie anschließend mit einem Transportflugzeug wegzuschaffen. Die Kühe wurden bei dem Flug unruhig und haben wohl angefangen zu randalieren. Damit das ganze Flugzeug nicht abstürzt, haben die Soldaten die große Heckklappe aufgemacht und die Kühe ausgetrieben. Es regnete Kühe über dem Ochotskischen Meer. Eine von ihnen landete auf dem Fischerboot.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen

Eine Kuh da, wo sie hingehört

Ein Boot auf dem Meer. Kein Riesenfrachter – ein Fischerboot auf einem See mit der Fläche von 1,53 Millionen km2. Die Kuh fällt nicht 2 Meter neben dem Boot. Nein, sie prallt  direkt darauf.

Nun stellt sich die Frage, wie wahrscheinlich ist es, dass man in einem kleinen Fischerboot sitzend von einer vom Himmel fallenden Kuh getroffen wird? Es ist nicht sehr wahrscheinlich. Würde man die Wahrscheinlichkeit ausrechnen wollen, kann ich mir vorstellen (denn ausrechnen kann ich es nicht), dass dabei eine Zahl herauskommen würde, bei der sowohl vor als auch nach dem Komma erst ein paar Nullen stünden.

Für die Bootsinsassen änderte die Wahrscheinlichkeitsrechnung jedoch nichts. Wenn eine Kuh im Anflug ist, sind nur zwei Möglichkeiten relevant: entweder sitzt man in dem Boot oder man ist woanders. 0 oder 1, wenn man es mit Zahlen ausdrücken will.

An diese Geschichte musste ich denken, als ich neulich im Café ein Gespräch von zwei Frauen überhört habe. Offensichtlich hatten beide kleine Kinder und redeten über weitere Familienplanung. „Bei uns ist jetzt Schluss“, meinte die eine. „Ich bin jetzt schon 35, wenn ich jetzt noch mal schwanger werden sollte… Ich habe einen Down-Syndrom-Fall in der nächsten Familie. Das Risiko muss ich nicht haben.“

Die Aussage war nicht besonders rücksichtsvoll, zumal am Tisch direkt daneben eine Schwangere saß, die ihren 30 Geburtstag vermutlich schon längst hinter sich hatte und das ganze Gespräch in einer Lautstärke geführt wurde, die nur als Einladung zum Mithören gemeint sein konnte. Zwei Tische weiter saß ich, Mutter eines behinderten Kindes.

Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen

Ein Fischerboot, womöglich kurz vor einem Kuhaufprall

Ich musste an die Geschichte mit der Kuh denken, denn als wir die Diagnose ‚Angelman Syndrom‘ für unsere damals 11 Monate alte Tochter bekommen haben, hat es sich angefühlt, als säßen wir in diesem Fischerboot auf das die Kuh vom Himmel gefallen ist. Monatelang haben wir daran geglaubt ein gesundes, normales, nicht behindertes Kind zu haben. Die Probleme, die bis dahin aufgetreten sind, waren nicht wirklich ungewöhnlich für Kinder dieses Alters. So kam es, dass wir an einem Tag noch ein sich langsam entwickelndes aber „normales“ Kind hatten und wenige Tage später, nach einigen Untersuchungen im Krankenhaus, ein schwerbehindertes. Es kam mir total unwahrscheinlich vor und in den Monaten danach wartete ich verzweifelt darauf, dass ich bitte endlich aus diesem bescheuerten Alptraum aufwache!

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein behindertes Kind bekommen, so hat uns die Humangenetikerin später erklärt, lag genau wie bei allen anderen gesunden und nicht familiär vorbelasteten Paaren bei 3 %. Sie meinte, es wäre gar nicht so wenig. Hätte mich vor der Geburt unserer Tochter jemand gefragt, würde ich dazu sagen: 97 % der Kinder kommen unbehindert zur Welt.

Seit der Diagnose weiß ich, dass Wahrscheinlichkeiten nur etwas für Finanzanalysten und Krankenkassen sind. Und für Menschen, die daran glauben, dass solche Zahlen Ihnen Kontrolle über das eigene Leben geben können. Das Leben macht trotzdem immer was es will, egal in welche Zahlen die Menschen es schmücken. Es kommt, wie es kommt, unabhängig davon wie viele Statistiken man vorher studiert hat. Entscheidet man sich für ein Kind, muss man damit rechnen, dass es anders wird, als man sich das vorgestellt hat. Ist es ein Grund, sich gegen Kinderkriegen zu entscheiden?

Sind 3 % ein geringes Risiko oder „gar nicht so wenig“? Wie viel Prozent ist nicht mehr vertretbar? Wie anders darf das Kind sein?

Es gibt so viele Familien, in denen Kinder nicht den „richtigen“, sprich den von den Eltern gewünschten Lebensweg, einschlagen. Sie haben nicht den richtigen Beruf, nicht die richtige sexuelle Orientierung, falsche religiöse Ansichten, den falschen Mann/die falsche Frau an ihrer Seite, falsche politische Ansichten. Ist das ein Grund um sich gegen Kinderkriegen zu entscheiden? Ein Grund, um diese Kinder weniger zu lieben?

Kinder und das Leben mit ihnen werden in aller Regel anders, als man sich das vorgestellt hat. Wäre die Menschheit glücklicher, wenn alle Kinder genauso sein würden, wie sich das deren Eltern ausgemalt haben? Die Wahrscheinlichkeit, dass dies je eintritt, kann selbst ich, mathematisch minderbemittelt (zum großen Bedauern von meinem Vater), ausrechnen. Sie beträgt 0 %.

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Ein heißer Sommertag. Es sind 35 Grad Celsius und alle, die nur können, versuchen ihre überhitzten Gehirnzellen irgendwie abzukühlen. Ich beschließe Emil etwas früher von der Kita abzuholen und mit ihm an einen See zu fahren.

Wir fahren mit dem Auto. Ich am Steuer, Emil hinten. Die Klimaanlage läuft, trotzdem haben wir offensichtlich beide das Gefühl kurz vor einer persönlichen Kernschmelze zu stehen. Auf der Strecke, auf der wir uns befinden, ist es schwierig bis unmöglich problemlos anzuhalten.

„Mama, ich wollte eigentlich mit Papa an den See fahren“, verzieht Emil sein Gesicht.

„Papa musste mit Hela zuhause bleiben, weil sie krank ist.“

„Aber ich wollte, dass wir alle zusammen fahren! Buhuuu“, Emil fängt an zu weinen.

„Ja, mir wäre das auch lieber. Leider kann Hela heute nicht an den See, sie kann auch nicht alleine zuhause bleiben und ich will nicht, dass wir alle zuhause sitzen, sondern dass zumindest wir an den See fahren und ein bisschen schwimmen.“

Emil überlegt einen Moment und weint dann weiter.

„Aber ich will hier hinten nicht alleine sitzen. Buhuuu.“

„Wir fahren nicht lange. Noch ein paar Minuten und wir sind da.“

„Aber es ist zu heiß.“

„Die Klimaanlage läuft. Gleich wird es kühler sein. Und bald hüpfen wir auch ins kühle Wasser.“

„Aber ich will nicht, dass es so heiß ist. Buhuuu.“

„Im Sommer ist es halt manchmal so heiß. Dann kann man auch im See schwimmen gehen.“

„Mein Gurt ist nass. Buhuuuu“, leidet Emil weiter.

„Er ist nass von deinen Tränen, weil du seit einer Weile weinst.“

„Ich will nicht, dass er nass ist. Buhuuuu“, Emil weint ununterbrochen weiter.

„Und jetzt ist er noch nasser! Buhuuuu“, schreit er verzweifelt 2 Minuten später.

Zum Glück kommen wir an. Nach 15 Minuten von komplizierten Parkmanövern finden wir doch noch eine Parklücke auf dem überfüllten Parkplatz. Wir breiten die Handtücher aus und ziehen die verschwitzten Kleider aus. Wir laufen barfuß über das Gras, essen Kirschen und spucken mit den Kernen. Wir schwimmen im herrlich kühlen See. Das Leben meint es gut mit uns.

Töpfchenspiele

„Denn die anderen Kinder laufen schon ohne Windel…“, „Meine Tochter bereits mit 2!…“, „Hat bei uns 2 Wochen gedauert…“, „So von heute auf morgen wollte er einfach keine Windel mehr“. Solche Sätze tauchen in der letzten Zeit oft und immer öfter in unserem Alltag auf.

Töpfchen – eignen sich hervorragend für ein Foto-Projekt: Töpfchen im Wald

Der dritte Geburtstag von Emil ist schon längst vorbei, er ist auch ganz offiziell ein Kindergartenkind aber Ende der Windelzeit ist noch nicht abzusehen. Wahrscheinlich müsste bei uns ein Töpfchenmeteorit einschlagen, sonst sieht es mit der Windelabgewöhnung düster aus… Nicht, dass wir es nicht versucht hätten – das erste Mal klassisch während der Sommertage. Da kann man gut ohne Windel herumlaufen, Pipi machen aufs Gras und selbst wenn die Hose etwas nass ist, droht nicht sofort die Unterkühlung der unteren Extremitäten. Im Sommer also beschließe ich, dass es soweit ist. Laut Beschluss ist unser Sohn reif für den Abschied von der Windel. Stundenlang suche ich nach einem passenden Töpfchen online und stelle fest, dass der Gegenstand, der wie ein einfaches Gefäß aus Plastik aussieht ein beinahe so komplexes Thema darstellt, wie ein Kinderwagen. Eine Wissenschaft für sich. Tausend Modelle. Mit Melodie, mit Spülfunktion, anatomisch geformt, ergonomisch geformt, unterschiedlich groß, mit Spritzschutz, mit Rutschschutz, wie ein Seehund oder auch ein Bobby-Car aussehend, mit I-Pad-Halterung (!), mit besonders hoher Lehne und überhaupt vielleicht doch ein besonderer Kloaufsatz für Kinder – mit Treppe oder auch ohne. Die Internetforen platzen förmlich von Eintragen zum Thema Töpfchenwahl. Manche sind zu klein, manche nicht für Jungs, manche zu niedrig, ein Modell sogar lebensbedrohlich – ein Kind hat sich auf den Spritzschutz so unglücklich fallen lassen, dass es dann operiert werden musste… Und dann gibt es noch dieses sündhaft teure High-Tech Ding, das praktisch alles macht, außer Kacka und Pipi selbst zu produzieren…

Nach sage und schreibe drei Abenden, die ich damit verbracht habe, mir Hunderte von Töpfchen anzuschauen, entscheide ich mich für das Modell Seehund. Es sieht lustig aus UND es spielt eine Melodie. Die Melodie ist sicher – ich habe nachgeschaut. Es wird nicht, wie bei manchen anderen Modellen Happy Birthday gespielt. Somit laufen wir nicht die Gefahr einer besonders unglücklichen Konditionierung. Modell Seehund wird bald geliefert. Ich führe es dem Kind vor und versuche dabei möglichst viel Begeisterung zu generieren – es ist ja das ultimative Töpfchen! Schließlich habe ich Stunden damit verloren, genau dieses Modell zu wählen. Kind setzt sich aufs Töpfchen.

„Prima! Fantastisch! Und gleich passiert was und dann kommt die Melodie!“. Es passiert tatsächlich was, die Melodie kommt nicht. Kind ist enttäuscht und verliert Interesse am Seehund. Seehund landet neben dem Töpfchen Nummer 1, das wir zusammen mit dem Kind im Laden ausgesucht haben. Auch daran hat das Kind Interesse verloren, sobald wir den Laden verlassen haben…

Nach einigen Wochen von hartem Töpfchenkampf, (Aber bloß ohne Stress! Mit ganz viel Lob und Ermunterung! Und bitte ganz sicher ohne Druck!) stapelt sich in unserem Badezimmer ein kleiner Töpfchenberg. Modell Seehund kriegt noch ein weiteres Melodie-Modell auf den Kopf (auch bei diesem Modell funktioniert die Melodie nur ein einziges Mal – beim Test im Laden) sowie noch zwei weitere Modelle. Kein Töpfchen ist gut genug. Kein Töpfchen spannend genug, um unser Kind dazu zu bringen, sich überhaupt darauf niederzusetzen. Ich gebe auf und lasse die Staubmilben sich auf die Töpfchen niederzusetzen. Es kommt, wenn es kommt. In den Lebenslauf muss man das zum Glück noch nicht reinschreiben.

Als ich meine Mami-Runde in der Zwischenzeit wieder treffe, stellt es sich heraus, dass mein Sohn nicht der einzige Töpfchenverweigerer ist. Wir tauschen Tipps, Meinungen und einige Zweifel aus. Normalerweise versuche ich das Thema nicht in Emils Anwesenheit zu diskutieren – ich würde ja letztendlich auch nicht wollen, dass man meine Klogewohnheiten öffentlich bespricht. Die Kinder sind aber mit der Spielküche beschäftigt, kochen munter vor sich hin und tun so als würden sie nichts von unserem Gespräch mitbekommen. Aber irgendwann mal scheinen wir, Mamis, dann doch die Grenzen überschritten zu haben. Der eine Junge fängt an mit den Kochtöpfen herum zu schmeißen und Emil kommt zu mir und reicht mir mit einem schelmischen Lächeln eine Plastiktasse rüber.

„Oh, Danke Schatz, ist das Kaffee für mich?“, frage ich entzückt.

„Nein, Kacka!“, antwortet er, dreht sich um und läuft weg…

1:1 in den Töpfchenspielen.

Blumen für dich

„Mama, ich habe Blumen für dich gepflückt“, meint Emil als ich ihn vom Kindergarten abhole.

„Warte mal, die sind hier, in meiner Hosentasche“, sagt er und zieht diese zwei Prachtexemplare aus seiner Hose.

Ein paar Tage später hat er für mich sogar einen ganzen Blumenstrauß – im Eimer. Die Weltmeisterschaft der Floristen würde er damit wahrscheinlich nicht gewinnen. Mein Mutterherz schmilzt trotzdem.

Was bisher geschah

Die Diagnose der schweren Behinderung unserer Tochter kam für uns völlig unerwartet. Nach einer unproblematischen Schwangerschaft, kam Hela zum errechneten Termin zur Welt und hat sich in den ersten Monaten normal entwickelt. Klar gab es einige Wehwehchen – aber keine, mit denen gleichaltrige gesunde Kinder nicht zu kämpfen hätten. Die ersten Sorgen kamen auf, als sie mit 6 Monaten die entsprechenden Meilensteine nicht erreicht hat und die Liste der Wehwehchen immer länger wurde. Aber auch da haben uns viele Personen vom Fach versichert, dass alles noch im grünen Bereich ist… Um so größer war der Schock als der Neurologe den Verdacht auf Angelman Syndrom geäußert hat, der dann durch den genetischen Befund bestätigt wurde.

gemalt von Emil, gefühlt von Mama

Hier findet ihr einige Texte, die in den ersten Wochen und Monaten nach der Diagnose unserer Tochter entstanden sind. Selbst wenn das einem zuerst schier unmöglich erscheint und manchmal als eine unglaubliche Frechheit des Schicksals empfunden wird: das Leben geht weiter.

Man sucht deshalb nach Orientierung und Anhaltspunkten in der neuen Welt der Behinderung; Merkur, Venus, Erde, Behinderung. Man macht Vieles, was man bisher ganz selbstverständlich getan hat, sieht aber alles in einem anderen Licht wie bei diesen Besuchen in zwei Gemäldegalerien: Pinakotheken oder auch auf dem Spielplatz.

Man macht auch Vieles worauf man gar keine Lust hat, wie zum Beispiel die Vorsorgeuntersuchung U6 – ab jetzt mit einem behinderten Kind.  Eigentlich wird es nie so schlimm, wie man sich das vorher ausgemalt hat.

Und wenn man kurz davor steht im Selbstmitleid zu versinken, wird man wachgerüttelt – wie ich in meiner Weihnachtsgeschichte.