Archiv für den Monat: Dezember 2021

Die Weihnachtsgeschichte

Dieser Text ist 2017 entstanden und erinnert mich auch 2021 immer noch daran, was zu Weihnachten für mich wirklich wichtig ist… In meinem Inneren – da schlummert nämlich die polnische Weihnachtstradition, die zwickt und drückt und ermahnt, dass eigentlich 12 Speisen am Heiligabend auf dem Tisch stehen sollten, dass sie alle ganz perfekt schmecken und auf traditionelle Art zubereitet werden sollten und dass die Fensterscheiben glänzen müssen… Dann lese ich diesen Text und erinnere mich an die Weihnachten 2017 und daran, was wirklich zählt.

Es ist Freitag, der 23. Dezember, ein grauer und unangenehm kühler Tag und ich renne gerade einem Krankenwagen hinterher. Sogar auf den Straßen von unserem kleinen Ort ist Einiges von dem Weihnachtstrubel zu spüren. Der Krankenwagen kommt durch die einzigen zwei größeren Kreuzungen auch mit Sirene nicht besonders flott durch. Zum Glück, denn so kann ich mithalten. Ich weiß, dass er zur Praxis von unserem Kinderarzt fährt, um von dort meine Tochter ins Krankenhaus zu bringen. Sie hatte in der Praxis erneut einen langen epileptischen Anfall. Der Papa ist bei ihr, aber ich will unbedingt mitfahren. Deswegen renne ich. Zum Umziehen war nach dem telefonischen Update von meinem Mann keine Zeit. Wie gut, dass ich heute nicht die furchtbare Schlabberhose angezogen habe, die ich trotz der skeptischen Blicke meines Ehegatten doch ab und zu mal zuhause trage.

Mitten in der Nacht hatte Hela zum ersten Mal die epileptischen Anfälle, vor denen wir schon seit der Diagnosestellung Angst hatten. Epilepsie gehört zum Syndrombild dazu: wir wussten, dass sie irgendwann mal kommen werdem. Vorbereitet ist man darauf trotzdem nie. Die Uhr sagte, die Anfälle in der Nacht dauerten nicht lange – gefühlt eine Ewigkeit. 1 Minute… 2 Minuten… 2 Minuten in denen ein Tornado im Gehirn und Körper meiner Tochter wütet und ich nichts machen kann, außer sie im Arm zu halten, auf die Uhr zu schauen und nach 3 Minuten das Notfallmedikament zu verabreichen. Diesmal kommt sie ohne aus und schläft irgendwann mal vollkommen erschöpft ein. Morgens macht sie einen munteren Eindruck, der Papa nimmt sie trotzdem zum Kinderarzt und dort passiert es wieder. Sie krampft – ein „Grand Mal“ Anfall, der Kinderarzt beschließt einen Krankenwagen für uns zu rufen, der uns in die Klinik bringt. Es ist ein Tag vor Heiligabend, bald wird ja überall tote Hose sein.

Im Krankenhaus wird uns empfohlen da zu bleiben. Hela kommt zwar zu sich, es waren aber die ersten Krampfanfälle und keiner weiß, was noch passieren kann. Vielleicht ist es vorbei, vielleicht krampft sie gleich wieder. Auf der Flur steht ein geschmückter Weihnachtsbaum. Ich überlege, ob wir unsere Geschenke morgen darunter legen sollen oder ob der Weihnachtsmann dieses Jahr an einem anderen Tag kommen soll. Unser Sohn wartet ja seit Wochen auf den Weihnachtsmann… Jetzt ist die Hälfte der Familie weg im Krankenhaus und keiner weiß, wie es weiter geht.

Wegen Helas Schlafstörung wurde uns eigentlich ein Einzelzimmer zugesprochen. Es ist aber ganz schön was los einen Tag vor Weihnachten und so landen wir doch mit einem anderen Jungen und seiner Mutter im Zimmer. Das Kind ist in Helas Alter. Es rennt fröhlich hin und her, ruft „Mama“ und sonst auch einzelne Wörter in einer mir unbekannten Sprache. Der Junge ist wegen Fieberkrämpfe hier. Mir ist überhaupt nicht nach Krankenhaus-Smalltalk und Erklärungen zu Helas Syndrom. Keine Lust auf die mitleidigen Blicke, auf „Oh, wie furchtbar, das tut mir leid…“ und auch nicht auf die Vergleiche, die auf „Da können WIR uns ja gar nicht beschweren“ hinauslaufen. Glücklicherweise ist der anderen Mutter auch nicht nach Reden. In der Nacht werden wir mit Hela immer wieder von den lauten Rufen des Jungen geweckt. Er redet im Schlaf und zwar in der Lautstärke, die einen Toten geweckt hätte und auf jeden Fall ein schlafgestörtes Mädchen und dessen Mutter.

Am nächsten Tag kommen wir mit der anderen Mama doch ins Gespräch.

„Ich weiß nicht, warum ich so müde bin“, sagt sie. Dann fängt sie an zu erzählen, als wollte sie ihre Müdigkeit rechtfertigen. Der Junge redet nachts so laut, weil er auf einem Ohr ganz schlecht hört. Das ist bereits das 6. Mal, dass sie mit ihm wegen Fieberkrämpfe ins Krankenhaus musste. Das ist aber halb so wild, meint sie. Mit seinem Zwillingsbruder ist sie viel öfters in diversen Krankenhäusern. Sie kennt eigentlich alle in der Stadt. Deutsch hat sie ja dort gelernt – mit den Krankenschwestern. Sie spricht ein sehr anständiges Deutsch. Die Zwillinge sind beide Frühchen, in der 25. Woche geboren. Sie waren lange im Krankenhaus nach der Geburt. Der andere Bruder hat Trisomie 21, das Down-Syndrom und durch die Frühgeburt Probleme mit fast allem, vor allem aber mit der Atmung. Epilepsie hat er auch. Sie können mit ihm nicht so einfach rausgehen in den Park oder auf den Spielplatz, weil er an so vielen Schläuchen hängt. Immer muss eine Sauerstoff-Pumpe mit. Das ist schwierig wegen seines Zwillingsbruders und der 3 älteren Schwestern. Sie würden ja gerne öfter zum Spielplatz mit der Mama. Die Frau beschwert sich nicht. Sie erzählt sachlich und sehr gefasst und passt währenddessen liebevoll auf ihren Sohn auf, der hin und her rennt und eindeutig genug von dem engen Krankenhauszimmer hat.

Es ist Heiligabend. Nach stundelangem Warten dürfen wir am Nachmittag doch beide nach Hause. Der Papa holt uns ab und wir fahren die andere Mama und ihren Sohn heim. Ihr Mann muss ja auf die anderen Kinder aufpassen und da sie neu in der Stadt, sind, kennen hier kaum jemanden, wer sie sonst abholen könnte. Und als der Junge gekrampft hat, war die Mama so unter Strom, dass sie vergessen hat eine Jacke und Mütze für ihn einzupacken.

Dann, am sehr späten Nachmittag landen wir endlich bei uns Zuhause, pünktlich zum Fest. Die Wohnung sieht aus, als hätte da eine Bombe eingeschlagen, denn während sich meine Eltern um das Kochen, Braten und Backen gekümmert haben, beschäftigte sich unser Sohn mit der kreativen Raumgestaltung. Es sind nicht, wie es die polnische Tradition vorschreibt, 12 Speisen auf dem Tisch. Die wenigen Sachen aus dem ausgedehnten traditionellen Menü, die es diesmal bei uns gibt, schmecken köstlich, auch wenn hier und da etwas Salz fehlt und manches etwas angebrannt oder kalt serviert wird. Alles schmeckt fantastisch. Unsere ganze Familie sitzt am Tisch – wir dürfen alle zusammen sein. Alle dabei. Unter unserem Weihnachtsbaum türmen sich Geschenke, wie immer viel zu viele. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, das alles an diesem Heiligabend gut ist, so wie es ist, ganz jenseits der Perfektion. Dieses Jahr bin ich unendlich dankbar für alles, was wir haben und weiß, wie viel das ist.

Zum Tod meiner Mutter

Ein Anruf und dann ist man bei den absolutistischen Kategorien angekommen. Nie wieder. Für immer.

‚Mama ist tot‘, sagt mein Vater am Telefon.

Wie kann jemand tot sein, der doch vor Kurzem noch am Leben war? Wie kann es sein, dass ein Mensch, der IMMER da war, seit der allerersten Sekunde meines Lebens – auch nach der streng katholischen Definition des Lebens – in jeder Minute, in jeder Stunde, nicht immer bei mir, aber immer da, irgendwo, irgendwie erreichbar, wie kann die Person mit bloß einem Anruf weg sein?

Vor dem Anruf war sie da. Nach dem Anruf ist sie tot. Für immer.

Entschuldigen Sie, das Gespräch ist beendet. Die gemeinsame Zeit auf Erde ist um. Endgültig. Ihr Guthaben ist vollständig ausgeschöpft und kann nie wieder aufgefüllt werden. Keine einzige Minute Verlängerung. Das war´s. Vorbei. Wir wünschen Ihnen alles Gute und bleiben Sie gesund.

Was wir nicht gemacht haben, werden wir nie wieder gemeinsam machen. Niemals.

Was wir nicht erfragt haben, werden wir nie wieder erfragen. Nie.

Was wir nicht gesagt haben, bleibt ungesagt. Für immer.

Sie war immer da. Jetzt ist sie für immer nicht mehr da.

Nichts Neues unter der Sonne.

Seit dem Anruf kann ich nicht aufhören zu weinen. Nur noch ein paar Tage fehlen bis zu meinem runden Geburtstag – vor knapp 40 Jahren hat sie mich zur Welt gebracht. Es war eine schwierige Geburt. Hin und wieder hat sie mich als Kind auf Polnisch „mein Leben“ genannt. Als ich selbst Mutter wurde, hat sie mir den Grund dafür erklärt – dass sie bei meiner Geburt dachte, sie würde sie womöglich nicht überstehen. Sie hat die Entbindung überlebt – ich war da und habe als erstes geschrien und geweint, wie jedes Neugeborene auch. Jetzt, 40 Jahre später, weine ich, weil meine Mutter nicht mehr da ist. Die Nabelschnur wurde mit ihrem Tod zum zweiten Mal durchtrennt. Wieder eine Abnabelung wider Willen.

Das Nie wieder hat bei uns bereits vor längerer Zeit angefangen.

‘Ich komme nie wieder selbst hierher‘, hat sie auf dem Weg zum Flughafen vor drei Jahren gesagt, als ihr Besuch bei uns zu Ende war. Sie saß in der S-Bahn in ihrer schicken Baskenmütze, Lederhandschuhe farblich auf die Handtasche abgestimmt und die Tränen liefen über ihre Wangen.

‚Ach was, mach dir keine Sorgen. Wir finden schon einen Weg‘, habe ich versucht, sie – vor allem aber mich selber – zu trösten. Wir wussten beide, dass sie recht hatte. Sie hat uns wieder besucht, aber nur noch in Begleitung, nie wieder alleine. Die Krankheit hat ihr stückchenweise ihre Stimme, ihre Freiheit und dann die Welt um sie herum geraubt. Uns hat sie mit gnadenloser Beharrlichkeit nach und nach unsere Mutter geklaut. Ihr Tod kam trotzdem für alle unerwartet, eigentlich hätte sie noch leben müssen.

Vor zwei Tagen habe ich ihre Hausschuhe weggeworfen. Robuste Lederpantoffeln, Größe 38, Zustand fast wie neu – bestimmt extra für die Reise zu uns gekauft. Sie lagen bei uns im Schuhschrank seit unsere Kinder auf der Welt waren. Bei ihrem langen Besuch nach der Geburt von unserem Sohn oder vielleicht unserer Tochter, hat sie sie aus Polen mitgebracht und vergessen wieder mitzunehmen. Nichts für ungut dachten wir, dann muss sie nicht jedes Mal die Hausschuhe über 900 Kilometer hin und wieder zurück im Gepäck schleppen. Die warten hier auf sie. Benutzt hat sie sie seitdem nie wieder. Jedes Mal hat sie erneut vergessen, dass ihre Pantoffeln bei uns sind und wieder welche aus Polen mitgebracht. Trotzdem warteten sie auf ihren nächsten Besuch im Schrank. Sie warteten auf sie auch noch, als es bereits klar war, dass sie nie wieder kommen wird, weder alleine noch in Begleitung. Die Pantoffeln trotzten der Endgültigkeit und hielten ihre Stellung. Für den Fall, dass doch, mag sein, dass nie wieder, aber wieso eigentlich wegwerfen, wo sie fast wie neu sind. Sie waren da, für den Fall. Solange sie gelebt hat. Jetzt sind sie weg. Wer soll denn die Exil-Hausschuhe meiner verstorbenen Mutter noch tragen?

Als die Tagesschau abends am Tag des Anrufs losgeht,  frage ich mich kurz verständnislos, wieso der Sprecher nicht mit der wichtigsten Nachricht des Tages anfängt:

„Meine Damen und Herren, ich begrüße sie zur Tagesschau. Heute, am 18. November ist A. T-K, die Mutter von Gosia Hannemann im Alter von 69 Jahren unerwartet verstorben.“

Nichts Neues unter der Sonne.

Meine Mama ist genau vor zwei Wochen gestorben. In den Tagen nach ihrem Tod hat mir dieser Text sehr geholfen: https://www.ohhhmhhh.de/wie-ueberlebt-man-den-tod-der-eltern/