Spielplatz – ab jetzt mit einem behinderten Kind

Es gibt Orte die man nicht gerne hat, um die man einen weiten Bogen schlägt. Doch, indem man sie so entschlossen ablehnt und verzweifelt versucht sie zu umgehen, macht man sie erst recht zu einem zentralen Punkt und zwängt sich selbst in die Rolle eines Satelliten, der einen Planeten immer wieder umrunden muss.
Spielplatz
Zu einem solchen Ort ist für mich ein Spielplatz geworden, auf dem ich bei gutem Wetter beinahe täglich mit dem kleinen Emil und später auch mit ihm und der neugeborenen Hela war. Nun sind die Tage länger und wärmer geworden und die neue Spielplatz-Saison hat schon längst angefangen. Dennoch lässt mich die Angst vor prüfenden und fragenden Blicken und Erklärungen, die unausweichlich auf uns zukommen werden, immer wieder um den Spielplatz kreisen. Die Mütter, die ich nur flüchtig kenne – aus dem Babyschwimmen oder aus der Spielgruppe, wissen noch nichts vom Angelman Syndrom. Die Angst davor jeder einzeln erklären zu müssen, warum Hela noch nicht sitzt, krabbelt, läuft und generell noch nicht so weit ist, wie ihre Kinder; die Angst vor den Fragen – denn jeder, der uns kennt, fragt und jedes Mal, wenn ich das Syndrom erkläre (es kennt ja verständlicherweise keiner), muss ich heulen… Wenn ich die Symptome herunterbeten muss, wie schwere geistige Behinderung, schwere körperliche Behinderung, Epilepsie, Schlafstörung, lebenslang an Betreuung angewiesen… Es fühlt sich an, wie ein Lebenslänglich-Urteil. Ein Urteil, das ich wirklich nicht auf dem Spielplatz verkünden will, wo man doch eigentlich nur mit den Kids spielen will. Und dabei immer wieder vorgeführt zu kriegen, wie es sein könnte, wäre nicht der Angelman, und immer wieder an die Endgültigkeit der Lage erinnert zu werden… Das alles lässt mich einen Bogen um den Spielplatz schlagen, auch wenn „Spielplatz“ zu Emils ersten Worten gehört hat.

An einem sonnigen Tag nach dem Eisessen mit einer Freundin, ihrem Sohn und meinen Kindern spazieren wir an dem Spielplatz vorbei und landen dann doch kurzerhand im Sandkasten. Ich scanne die Landschaft. Niemand von den Alteingesessenen. Es sind wohl über Winter doch viele neue Kinder spielplatzreif geworden. Niemand grüßt uns und niemand fragt. Wir buddeln im Sandkasten, schaukeln mit Hela und rutschen mit Emil.

Ermutigt versuche ich am nächsten Tag den nächsten Schritt zu gehen und verabrede mich mit einer netten Mutter aus Helas ehemaliger Spielgruppe. In meinem traumatisierten Gehirn entsteht ein Plan. Der Plan ist, sie an einem gefühlsneutralen Ort zu treffen. Ich weiß, dass sie nach Hela fragen wird und hoffe, dass sie dann die Nachricht über das Syndrom unter den Spielgruppenmütter verbreitet. Dann wissen auch alle bereits Bescheid, wenn wir sie später zufällig treffen, zum Beispiel auf dem Spielplatz. Ich hoffe sie dazu zu überreden, am nahegelegenen Fluss Enten füttern zu gehen. Zum ersten Mal überhaupt denke ich daran, altes Brot einzupacken. Ein Riesenvorrat. Frisches Brot packe ich auch noch dazu, falls das alte Brot für die Entenscharren in unserem Landkreis nicht ausreichen sollte. Alternativ überlege ich mir auch wieder Eis essen zu gehen. Alternativ ein legerer Spaziergang durch die Ortschaft. Alles nur keine Urteilsverkündung auf dem Spielplatz. Wir vereinbaren einen Treffpunkt vor dem Rathaus und die Uhrzeit, dann wollen wir spontan entscheiden, was wir machen. Leider rebellieren die Kinder an dem Tag auf der ganzen Linie und verweigern den Mittagsschlaf. Emil boykottiert ihn komplett, als Hela endlich einschläft ist bereits klar, dass wir die vereinbarte Uhrzeit nicht einhalten werden. Ich schreibe meiner Bekannten, dass wir eine Verspätung haben. Sie schreibt auch gleich zurück: “Kein Problem, bloß kein Stress! Wir warten auf euch auf dem Spielplatz.“

Als wir da sind, treffen wir noch zwei weitere Mütter aus der Spielgruppe. Alle Kinder laufen schon. Hela sitzt in meinem Schoß und guckt sich das Geschehen im Sandkasten mit großen Augen an. Die erste Frage kommt. Ich meistere sie ganz gut. Auch die von der anderen Mutter, die nicht dabei war und eine halbe Stunde später fragt. Ich muss nicht heulen. Ich sage: „Angelman Syndrom… Ein seltener Gendefekt… Eine nicht unwesentliche Behinderung… Kannst du googeln…“. Und alles ist gut. Wir spielen im Sandkasten mit Emil, schaukeln mit Hela, Emil klettert zum ersten Mal ganz alleine auf einen Baum. Alles ist gut. Als ich nach Hause gehe, fühle ich mich, als hätte ich gerade die Abiturprüfung bestanden. Die Spielplatz-Zeit hat für uns wieder angefangen.

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