In der Zeit unmittelbar nachdem das Angelman Syndrom bei unserer Tochter diagnostiziert wurde, war mein Kopf voller Fragen. Ich hatte das Gefühl das wir mit einem Schlag in eine fremde Welt katapultiert worden sind – in die Welt der Schwerbehinderung. Wir durften zwar in der heilen, syndromfreien Welt als Beobachter verweilen aber es war nicht mehr unsere Welt. Wir haben einfach nicht mehr dazu gehört, zu der Welt der Familien mit lachenden, plappernden und herumlaufenden Kindern. So hat es sich zumindest damals angefühlt.
Jedes Mal nahm uns unser Diagnose-Raumschiff zurück auf den für uns ausgesuchten fremden Planeten. Ich wusste gar nichts darüber und das machte mir Angst. Die Informationsbruchstücke, die ich hatte, basierten hauptsächlich auf dem Wissen aus dem Fernsehen. Im Freundeskreis oder in unseren Familien gab es bis vor kurzem keine Menschen mit Behinderung. Immer wieder also drängten sich mir Fragen auf: Was ist das für eine Welt in der wir gelandet sind? Wie leben denn DIESE Menschen? Was ist das für ein Leben? Sind sie glücklich?
Auf den Straßen hielt ich Ausschau nach möglichen Anzeichen der Behinderung bei anderen Menschen aber so intensiv ich alle angegafft habe, konnte ich keine entdecken. Rein statistisch gesehen hätten wir aber in unserem 20.000 – Seelen – Ort nicht die einzige Familie mit einem behinderten Kind sein dürfen. Ich fragte mich also immer wieder: Wo sind sie denn? Warum sieht man sie gar nicht?
Einige Zeit später hat mich meine unbedarfte Sucherei nach DEN BEHINDERTEN daran erinnert, wie ich vor Jahren im Rahmen vom Socrates-Erasmus Austauschprogramms nach Deutschland kam. Wir kamen als eine kleine Gruppe von Germanistik- und Linguistik- Studenten von meiner Uni nach Berlin, alle mit dem Ziel unser Deutsch zu perfektionieren und die deutsche Kultur zu erleben. Wir wollten DIE DEUTSCHEN kennen lernen. Relativ schnell stellte sich heraus, dass dies in Berlin keine einfache Aufgabe ist. Erstens waren die Deutschen nicht auf den ersten Blick erkennbar, wie vorher unbewusst angenommen. Zweitens bestand unser Wochenplan hauptsächlich aus Seminaren in denen größtenteils andere Austauschstudenten saßen. Drittens waren die Studentenwohnheime in denen wir untergebracht wurden zu 90 % von anderen ausländischen Studenten bewohnt. Und nicht zuletzt hatten die regulären Studenten, zu denen ja alle deutschen Studenten zählten, relativ wenig Interesse daran, die Austauschstudenten kennen zu lernen, die nur für einen oder maximal zwei Semester in der Stadt bleiben würden. Die Socrates-Studenten lebten in einer Socrates-Blase. Es gab Socrates-Wohnheime, Ratgeber für Socrates-Studenten, Socrates-Partys sowie Clubs und Cafés in denen sie vorrangig verkehrten. In der Mensa hielten sie sich zusammen. Immer wieder als wir uns trafen, hörte man die Frage:
„Und, hast du schon irgendwelche Deutsche kennen gelernt?“
„Nein, aber zur Party am Mittwoch kommen zwei Dänen.“
oder
„Nein, aber auf der Etage, auf der Monika wohnt, wohnt auch eine deutsche Studentin.“
Wäre ich, wie geplant, nur einen Semester lang in Berlin geblieben, hätte ich vermutlich keine deutschen Studenten kennen gelernt. Ich bin aber länger geblieben und nach und nach, hat man sie dann doch getroffen, die ersten deutschen Freunde und Bekannten gewonnen – sogar einen besonders netten deutschen Studenten kennen gelernt, der einige Jahre später mein Ehemann wurde. Nach ein paar Semestern hat man dann gelernt, dass es keinen großen Sinn hat, streng zu unterscheiden – es gab dann eben Pierre und Heike und Olga und Aboud. Deren Nationalität war oft schwer eindeutig festzustellen und ohnehin nicht mehr so wichtig.
Auch auf dem Planeten Behinderung entdecke ich nach und nach Leben. Es gibt hier auch andere Menschen und Familien – einige wohnen in unserer Gegend. Man erkennt sie nicht immer auf den ersten Blick. Manchmal bleiben sie unter sich, weil es für sie aus diversen Gründen nicht immer einfach ist, an dem gesellschaftlichen Alltag teilzunehmen. Oder aber, weil die Menschen nicht immer Interesse daran haben, sie kennen zu lernen – sie haben keine Zeit für neue Bekanntschaften und manchmal haben sie Angst vor Menschen von fremden Planeten.
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